Die Gesundheitswirtschaft ist bei weitem der größte Sektor der deutschen Volkswirtschaft. In Sonntagsreden wird sie als Boom- und Zukunftsbranche beschworen. Doch die erlebte Realität sieht anders aus. Gesundheit gilt noch immer als Kostenfaktor, nicht als Wachstumsmarkt. Die Akteure empfinden Regulierung statt Freiheit, Zersplitterung statt gemeinsamer Interessen – und eine tiefe Abneigung der Gesundheitsberufe gegen alles, was sich Wirtschaft oder Markt nennt.
Die Daten des Statistischen Bundesamtes sprechen eine klare Sprache: Im Jahr 2005 belief sich das Volumen der Gesundheitswirtschaft auf 239,4 Milliarden Euro oder 10,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Im Schnitt gab jeder Einwohner im selben Jahr 2900 Euro für die Gesundheit aus – im Jahr 2000 waren es nur 2580 Euro. Ende 2005 waren insgesamt 4,3 Millionen Menschen in der Gesundheitswirtschaft beschäftigt. Damit ist etwa jeder neunte Arbeitnehmer in Deutschland im Gesundheitswesen tätig. Während die Beschäftigtenzahl in der Gesamtwirtschaft zwischen 2004 und 2005 nahezu stagnierte, stieg sie im Gesundheitswesen um 27.000 Beschäftigte oder 0,6 Prozent. Seit 1997 ist sie um knapp 200.000 gestiegen.
Gesundheit ist vor allem eine Jobmaschine für Frauen. Mit 72,3 Prozent lag der Anteil weiblicher Beschäftigter 2005 überdurchschnittlich hoch. In der Gesamtwirtschaft betrug er 44,9 Prozent.
An diesen Zahlen und Entwicklungen setzen die Autoren einer Studie der Deutsche Bank Research aus dem Jahr 2006 an und betonen, während das nominale BIP in den letzten zehn Jahren in Deutschland um knapp ein Drittel zugelegt habe, seien die Ausgaben für Gesundheitsleistungen um fast die Hälfte gestiegen: „Die Tendenz überproportional wachsender Gesundheitsausgaben dürfte auch mittelfristig anhalten.
Der Anteil der Gesamtausgaben am BIP wird von derzeit elf Prozent auf rund 13 Prozent bis 2015 zunehmen." Die Gesundheitssparte habe sich in Deutsch-land – trotz vieler Kostendämpfungsmaßnahmen der Politik – zu einem Zugpferd der Wirtschaft entwickelt. Der Gesundheitssektor sei schon seit Längerem der größte Wirtschaftsbereich. Mit gut vier Millionen Beschäftigten in über 800 Berufen seien bereits heute weit mehr Menschen im Gesundheitswesen beschäftigt als beispielsweise in der Automobil- oder in der Elektroindustrie.
Prognostiziertes Wachstum von 70 Prozent
Auch die Unternehmensberatung Roland Berger sieht im Gesundheitswesen die größte Wirtschaftsbranche Deutschlands. Die Autoren der Studie „Innovation und Wachstum im Gesundheitswesen" sagen der Gesundheitswirtschaft bis 2020 ein Wachstum von gut 70 Prozent, von 260 Milliarden Euro (2003) auf 453 Milliarden Euro voraus.
Als besonderer Treiber diese Entwicklung gilt der so genannte Zweite Gesundheitsmarkt. Das ist der Markt für Gesundheitsprodukte und -dienstleistungen, der von den Bürgern vollumfänglich selbst finanziert wird und der freien Konsumentscheidung des Einzelnen unterliegt. Roland Berger geht in der neuesten Studie zum Zweiten Gesundheitsmarkt davon aus, dass sich dieser Markt rasant weiterentwickeln wird.
Doch trotz aller positiven Nachrichten und Erwartungen: Die Vorstellung darüber, was denn der Gesundheitsmarkt im Rahmen der gesamten Volkswirtschaft bedeutet, welchen Stellenwert er hat und aus welchen Teilmärkten er besteht, ist nach wie vor ungenau und strittig.
So verwendet das Statistische Bundesamt zur Abgrenzung des Gesundheitswesens das „System of Health Accounts" der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Danach zählen zum Gesundheitswesen sämtliche Institutionen und Personen des Gesundheitsschutzes (Vermeidung von Gesundheitsgefährdungen), der Gesundheitsförderung (Verbesserung der gesundheitsrelevanten Lebensbedingungen) und der Gesundheitsversorgung (medizinische Behandlungs-, Rehabilitations- und Pflegemaßnahmen). Das Statistische Bundesamt spricht konsequent von den Gesamtausgaben für Gesundheit – keineswegs aber vom Volumen oder dem Umsatz der Gesundheitsbranche oder der Gesundheitswirtschaft, wie dies etwa die Deutsche Bank oder Roland Berger tun.
Dabei ist die Abgrenzung des Gesundheitsmarktes, wie sie das Statistische Bundesamt wählt, keineswegs die einzig mögliche. Roland Berger etwa fasst den Gesundheitsmarkt weiter. Zum Gesundheitsmarkt nach der dortigen Definition zählen noch weitere privat finanzierte Ausgaben, die nicht in der Gesundheitsausgabenrechnung des Statistischen Bundesamtes erfasst werden, jedoch zur individuellen Gesundheit beitragen. Das Gesamtvolumen dieses zusätzlichen Marktes habe bereits 2003 rund 20 Milliarden Euro betragen und sei ebenfalls dem privaten Konsum zuzurechnen. Hierunter fallen sowohl Mitgliedschaften im Sportstudio und Ausgaben für Wellness als auch Kosten für Gesundheitstourismus, Bio-Lebensmittel und die steigenden Ausgaben für „Functional Food".
Dienstleistungen mit produktivem Charakter
Noch weitergehend definiert der Sozialwissenschaftler Josef Hilbert die Gesundheitswirtschaft in der Studie „Rahmenbedingungen und Herausforderungen der Gesundheitswirtschaft": „Der erweiterte Gesundheitssystembegriff betrachtet die Verflechtungen der Gesundheitswirtschaft mit anderen Wirtschaftssektoren.
Darüber hinaus betont das erweiterte Verständnis der Ge-sundheitswirtschaft den produktiven Charakter gesundheitsbezogener Dienstleistungen, der in der gesundheits- und sozialpolitischen Debatte der letzten Jahre – bis auf wenige Ausnahmen – zu wenig Berücksichtigung fand." So zählen die Autoren in dem von ihnen entwickelten Zwiebelmodell „neben den personalintensiven Dienstleistungen im Bereich der ambulanten und stationären Gesundheitsversorgung auch die kapital- und technologieintensiven Vorleistungs- und Zulieferindustrien sowie die Randbereiche und Nachbarbranchen mit ausgeprägten gesundheitlichen Bezügen" zur Gesundheitswirtschaft.
Auch der „Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen" (heute: Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen oder kurz SVR Gesundheit) hat bereits 1987 erstmals, ausführlich und nachdrücklich jedoch in seinem 1997 erstatteten Sondergutachten „Gesundheitswesen in Deutschland: Kostenfaktor und Zukunftsbranche", für die offizielle Betrachtungsweise des Gesundheitssystems einen entscheidenden Paradigmenwechsel eingeleitet.
Im Sondergutachten heißt es: „Das Gesundheitswesen stellt einen erheblichen Wirtschafts- und Wachstumsfaktor in der Volkswirtschaft dar. Es dient nicht nur der Erhaltung, Wiederherstellung und Förderung von Gesundheit, sondern trägt mit den direkt und indirekt rund vier Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und den von ihnen erbrachten Dienstleistungen zur volkswirtschaftlichen Wertschöpfung und vor allem zu wünschenswerten Wirkungen auf den Arbeitsmärkten bei.
Unter neuen Finanzierungsmodalitäten und unter wettbewerblichen Bedingungen können steigende Umsätze, Beschäftigungszahlen und Gewinne unter gesamtwirtschaftlichen Aspekten auch im Gesundheitswesen als Erfolgsmeldung angesehen werden. Das sich abzeichnende strukturelle Wachstum verbunden mit dem zunehmenden Anteil älterer Menschen lässt neue Berufe entstehen und öffnet neue Tätigkeitsfelder. Wohlfahrt, Wachstum und Beschäftigung sind die tragenden Zieldimensionen und Wirkungen des Gesundheitswesens."
Das Gesundheitswesen gilt weiter als Kostenfaktor
Doch die gesundheitspolitische Diskussion wird weiter vom Gesundheitswesen als Kostenfaktor und damit als Belastung für die Entwicklung des Arbeitsmarktes und letztlich der Volkswirtschaft insgesamt bestimmt. Deutlich drückt dies das Gutachten „Wirtschaftliche Aspekte der Märkte für Gesundheitsdienstleistungen" des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung aus – eine Betrachtung, die faktisch unverändert gilt: „Ausgaben für Gesundheit werden in der wirtschaftspolitischen Debatte vor allem als Kostenfaktor angesehen. Als besonders nachteilig wird häufig auf eine permanent ansteigende Ausgabenentwicklung verwiesen."
Dem entspricht das Handeln der Politik gegenüber dem Gesundheitsmarkt: Nach wie vor gilt das Dogma der Beitragssatzstabilität – ein Dogma, das seinen Ausdruck in sich zyklisch wiederholenden staat-lichen Kostendämpfungsaktivitäten in Form von so genannten Reformgesetzen und in einer nun bereits nahezu 15 Jahre dauernden Budgetierung aller Teile der Ge-sundheitswirtschaft findet, die durch die Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung finanziert werden.
Wettbewerb wird mit sozialer Kälte assoziiert
Andererseits ist der Begriff der Gesundheitswirtschaft auch unter den Systembeteiligten keineswegs unumstritten. Mit Gesundheitswirtschaft werden die Begriffe Markt und Wettbewerb assoziiert, die auf die konkrete persönliche Erfahrung der vergangenen fünfzehn Budgetierungsjahre übertragen werden.
So verstanden bedeuten Markt und Wettbewerb vor allem eines: Begrenzung der für die Patientenversorgung zur Verfügung stehenden Mittel, zunehmende Reglementierung und Bürokratisierung und – vor allem im Krankenhaus und in der Pflege – ein zunehmender Personalabbau und nachfolgende Arbeitsverdichtung. Denn Beitragssatzstabilität und Budgetierung wurden und werden von den Entscheidern gerne mit der Notwendigkeit von mehr Wirtschaftlichkeit und Effizienz begründet.
Eine Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung zum Thema „Medizin zwischen Humanität und Wettbewerb" Ende September 2007 machte dieses Dilemma exemplarisch deutlich: Wettbewerb wird vor allem von Ärzten als Synonym für soziale Kälte und die Beschneidung der medizinischen Möglichkeiten für den einzelnen Patienten gesehen. Privatisierung stellt für sie eine Bedrohung des prinzipiell sozialen und am Gemeinwohl orientierten Grundgedankens des Gesundheitswesens dar. Zusammengefasst wird die gesamte Kritik in dem Begriff der „Ökonomisierung" des Gesundheitswesens.
So sprach der Kölner Medizinethiker Prof. Dr. Klaus Bergdolt etwa von einer Entwicklung vom ethisch gebotenen zum ethisch verwerflichen Sparen, wobei die Grenze zwischen beiden Formen nur schwer feststellbar sei. Rudolf Henke, CDU-Landtagsabgeordneter in Nordrhein-Westfalen, stellvertretender Vorsitzender des Marburger Bundes und Mitglied im Vorstand der Bundesärztekammer, betonte im Hinblick auf die im Sinne einer rationalen und am Wirtschaftlichkeitsgebot orientierten durchgehenden Nutzung des Konzeptes der evidenzbasierten Medizin: „Wir Ärzte wollen nicht Exekutoren von evidenzbasierten Entdeckungen sein."
Hinzu kommt: Auch die Akteure der Gesundheitswirtschaft selbst verstehen sich nicht einer einzigen, großen Branche zugehörig, sondern betrachten diese Zugehörigkeit eher als so etwas wie eine Zwangsehe. Sie kämpfen intensiv darum, von den Ressourcen für das Gesundheitswesen das größte Stück abzubekommen. Dabei sind die übrigen Akteure innerhalbder Gesundheitswirtschaft mehr Konkurrenten als Verbündete, und gemeinsame Interessen werden allzu leicht vergessen. Das geflügelte Wort vom „Haifischbecken Gesundheit" erfährt angesichts solcher Szenarien seine konkrete Bedeutung.