Wo noch bis vor wenigen Jahren die Zechen Kohle förderten und die Kokereien den Rohstoff veredelten, betreiben Wissenschaftler heute Spitzenforschung. Im Ruhrgebiet sind Medizintechnik und Biotechnologie zu einem Motor des Strukturwandels geworden. Initiativen geben weiteren Elan. Doch nicht nur im Ruhrgebiet – in ganz Nordrhein-Westfalen ist die Branche auf Wachstumskurs.
Früher war es Koks, heute ist es Wissen: In der Kokerei Zollverein in Essen reift die Grundlage für Wohlstand. In die Leitwarte der 1993 stillgelegten Kokerei ist mit dem Erwin L. Hahn Institut für Magnetresonanz im vergangenen Jahr ein Forschungsinstitut eingezogen. In den Hallen der Leitwarte steht ein Magnetresonanztomograf (MRT) der nächsten Generation, ein 32 Tonnen schwerer Koloss, der es in sich hat. Scheibe für Scheibe durchleuchtet er den Körper.
Das Besondere an dem Tomografen: Er ist einer von derzeit weltweit sechzehn mit einer magnetischen Feldstärke von sieben Tesla. „Das ist etwa 140.000-mal stärker als das Erdmagnetfeld", sagt Winfried Book vom Essener Institut. Gängige MRT in Deutschlands Krankenhäusern arbeiten mit 1,5 bis maximal drei Tesla. Das ist die Einheit für die Magnetstärke. „Dank des stärkeren Magneten bieten die Aufnahmen deutlich bessere diagnostische Potenziale", sagt Book.
Die Wissenschaftler des Instituts, das von der Universität Duisburg-Essen und der niederländischen Radboud Universität im nahen Nijmegen gegründet wurde, wollen den 7-Tesla-MRT für die klinische Diagnostik im gesamten Körper nutzbar machen. „Das Erwin L. Hahn Institut ist im Moment das weltweit einzige, das versucht, diese Technologie für Ganzkörperanwendungen im klinischen Einsatz zu erforschen", sagt Book. Ziel sei es unter anderem, herauszufinden, bei welchen medizinischen Indikationen eine sieben Tesla Auflösung Sinn mache.
„Solche Institute können ein Zeichen setzen und weitere Institute anziehen", sagt Marita Pfeiffer von der Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur, die sich um die Erhaltung und Entwicklung der Industriedenkmäler in Nordrhein-Westfalen kümmert. Platz für weitere gebe es jedenfalls noch in der Kokerei und Zeche Zollverein, die seit 2001 zum Weltkulturerbe der Unesco zählt.
Die Gesundheitswirtschaft: Jobmaschine im Revier
Neben dem Essener Institut haben sich in den vergangenen Jahren zahlreiche Forschungsinstitute und Unternehmen aus der Medizintechnik und Biotechnologie in der Region niedergelassen. Ob in Krankenhäusern, Pflegediensten oder den Unternehmen der Biomedizin oder Medizintechnik – die Gesundheitswirtschaft gilt den Wissenschaftlern des Instituts Arbeit und Technik (IAT) an der Fachhochschule Gelsenkirchen zufolge als „die Jobmaschine".
„Die Gesundheitswirtschaft ist ein ganz wichtiger Wachstumsbereich in Nordrhein-Westfalen", sagt Sozialwissenschaftlerin Michaela Evans vom IAT. Bis zum Jahr 2015 können laut Evans in der Gesundheitswirtschaft Nordrhein-Westfalens bis zu 200.000 neue Arbeitsplätze entstehen. Das wäre ein Plus von 20 Prozent gegenüber heute, da die Branche eine Million Beschäftigten Arbeit im ganzen Land gibt.
Zwischen 1999 und 2005 stieg die Zahl der Beschäftigten in der Gesundheitswirtschaft im bevölkerungsreichsten Bundesland laut Gesundheitsministerium um rund sieben (7,6) Prozent. Allein im Ruhrgebiet, das von Duisburg im Westen entlang der Ruhr bis nach Dortmund und Hamm reicht, kamen den Angaben zufolge in diesem Zeitraum 14000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in der Gesundheitswirtschaft hinzu, ein Plus von mehr als sechs Prozent. 2005 arbeiteten fast 300.000 Menschen im Ruhrgebiet in der Gesundheitswirtschaft, 16 Prozent der Beschäftigten insgesamt. Gut die Hälfte arbeitete im klassischen Gesundheitswesen, also in der stationären und ambulanten Versorgung.
Das Ruhrgebiet gilt als die dichteste und vielfältigste Kliniklandschaft Europas. Rund 130 Krankenhäuser und Kliniken gibt es laut Landesamt für Statistik derzeit in der Region mit ihren mehr als fünf Millionen Einwohnern. Darüber hinaus kümmern sich über 9.000 Haus- und Fachärzte, Zahnärzte und Kieferorthopäden um Patienten. „Das Ruhrgebiet verbindet eine hohe Qualität der Versorgung in der Fläche mit spitzenmedizinischen Kompetenzen – etwa an den großen Universitätskliniken in Essen und Bochum", sagt Michaela Evans vom IAT.
Aber auch international angesehene private Forschungseinrichtungen sind in der Region vertreten. In Dortmund etwa sitzt das Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie (MPI) mit seinen nach eigenen Angaben rund 140 Wissenschaftlern, Doktoranden und Diplomanden aus aller Welt, die dort Grundlagenforschung in der Biomedizin betreiben. Mit Erfolg: In den vergangenen Jahren ist es den Wissenschaftlern gelungen, zahlreiche Mechanismen der Entstehung von Tumoren aufzudecken. Professor Dr. Alfred Wittinghofer vom MPI erhielt 2003 für seine Arbeiten den Deutschen Krebspreis.
Das Ruhrgebiet versteht sich selbst als Vollanbieter in Sachen Gesundheit. Im Nordosten von NRW, in der Region Ostwestfalen-Lippe, gibt es dagegen eine „starke Orientierung auf die Kur- und Heilbäder und den Ausbau von gesundheitsbezogenen Erlebnisangeboten", wie Evans sagt. 21 Kurorte und Heilbäder liegen in der Region, darunter das Heilbad Bad Oeynhausen mit seinem Herz- und Diabeteszentrum NRW.
In NRW wird geforscht, entwickelt und produziert
Im Rheinland hingegen stehen die Pharmaindustrie und die Biotechnologie im Fokus: Wer auf der A3 an Leverkusen vorbeifährt, dem prägt sich das Emblem des Bayer-Konzerns ein. Seit 1958 beleuchten über 1.700 Glühbirnen das Bayer-Kreuz. Der Konzern ist einer der großen Arbeitgeber des Landes. In NRW wird geforscht, entwickelt und produziert. Was jedoch kaum jemand weiß: Die Bayer-Zentrale hat erst seit 1912 ihren Sitz in Leverkusen.
Gegründet wurde die Firma Bayer 1863 im heutigen Wuppertal, wo auch 1897 das wohl bekannteste Arzneimittel des Konzerns, Aspirin, erfunden und zunächst hergestellt wurde. Auch heute noch forschen im Pharmazentrum in Wuppertal etwa 1200 Mitarbeiter und entwickeln Präparate für die Kardiologie. Zudem haben in Nordrhein-Westfalen noch Pharmaunternehmen wie Grünenthal, Madaus, Medice und Schwarz Pharma ihren Sitz.
In Wuppertal laufen die Fäden der größten Krankenkasse Deutschlands zusammen: Die Barmer Ersatzkasse hat in der gut 350.000 Einwohner großen Stadt ihre Hauptverwaltung. Auch die Privatversicherung Barmenia hat ihre Zentrale in Wuppertal. In Düsseldorf sitzt die Ergo Versicherungsgruppe AG, unter deren Dach sich unter anderem die DKV und die Victoria befinden.
Die großen Pharma- und Chemiekonzerne wie Bayer oder Henkel schaffen ein gutes Umfeld für Zulieferer und Biotechnologie-Unternehmen. In NRW existieren nach Angaben des Wissenschaftsministeriums 80 Biotechnologie-Unternehmen aus dem Kernbereich sowie etwa 120 biotechnologisch orientierte Dienstleistungsunternehmen.
Das größte Biotechnologie-Unternehmen Deutschlands hat seinen operativen Hauptsitz in der Nähe von Düsseldorf: Qiagen. Knapp 770 Mitarbeiter arbeiten allein in der Zentrale in Hilden. Über die Standortbedingungen in Nord-rhein-Westfalen kann sich das Unternehmen nicht beklagen: „Wir fühlen uns hier wohl und wollen den Standort weiter ausbauen", sagt Unternehmenssprecher Thomas Theuringer. Ein Grund dafür sei die gute Ausbildung.
„Wir finden hier die Leute, die wir brauchen." Auch die Landesregierung hat nach den Worten von Theuringer ein offenes Ohr für die Anliegen des Unternehmens. „Von der Landesregierung sehen wir uns gut unterstützt, wir haben einen sehr intensiven Kontakt."
Der Kontakt zur Wissenschaft und vor allem zur Universität Düsseldorf ist eng: Qiagen ist ein Spin-Off der Hochschule. „Da kommen wir her, da gibt es noch gute und enge Verbindungen", sagt Theuringer. Aber auch zu anderen Forschungsinstituten und Universitäten gebe es gute Kontakte. „Universitäten sind für uns sowohl Entwicklungspartner als auch Kunden und deswegen ein ganz wichtiger Faktor", sagt er.
Alterung der Gesellschaft als Chance für die Region
Die regionalen Akteure haben die Chancen und Wachstumsmöglichkeiten der Gesundheitswirtschaft erkannt. Sie wollen die Branche ankurbeln – und haben sich in zahlreichen Initiativen und Vereinen zusammengeschlossen. Die MedEcon Ruhr ist eines dieser Netzwerke. Sie bündelt und vermarktet die gesundheitswirtschaftlichen Aktivitäten im Ruhrgebiet.
Zum Beispiel in der Seniorenwirtschaft. „Wir können Akteure aus dem Bereich Gesundheitsimmobilien und Pflege an einen Tisch bringen, um gemeinsame Projekte zu initiieren", sagt Ulf Stockhaus, zuständig für das Marketing der MedEcon Ruhr. Der Altersdurchschnitt des Ruhrgebietes liege etwa 20 Jahre über dem Bundesdurchschnitt. „Da steckt eine Menge Marktpotenzial dahinter. Hier bietet sich dem Ruhrgebiet die Chance, eine Vorreiterrolle für Versorgungskonzepte wahrzunehmen."
Auch die Initiative LifeTecRuhr will die Akteure näher zusammenbringen. Mehr als 60 Unternehmen, etwa aus der Medizintechnik oder Biotechnologie, sämtliche Universitäten des Ruhrgebietes sowie zahlreiche Institute und öffentliche Einrichtungen bündeln seit Anfang 2004 ihre Kräfte unter dem Dach des Verbundes.
„Die Akteure haben sich selbstständig zusammengefunden", sagt Wissenschaftlerin Evans. „Diese Bewegung ist von unten gewachsen und aus der Branche selbst entstanden, weil die Akteure gesehen haben: Wenn wir die Potenziale der Gesundheitswirtschaft umsetzen wollen, dann brauchen wir eben mehr Integration, wir brauchen mehr Vernetzung, wir brauchen mehr Innovation." In der Region Ostwestfalen-Lippe vernetzt das 1999 gegründete Zentrum für Innovation in der Gesundheitswirtschaft die einzelnen Akteure, im Rheinland der Verein BioRiver, ein Netzwerk der Life Science Industrie und der Wissenschaft.
Diese in den Regionen entstandenen Strukturen und Netzwerke will die Landesregierung Nordrhein-Westfalen gezielt fördern – mit Wettbewerben. „Wir wollen einen Wettbewerb um die besten Ideen, die besten Köpfe, die besten Kooperationsformen zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik", sagte Wirtschaftsministerin Christa Thoben (CDU) während der Vorstellung der „Initiative Zukunft Ruhr", den neuen Leitlinien der Landesregierung für die Entwicklung des Ruhrgebiets. „Wir glauben, vieles Gute kommt von unten, und es wird besser, wenn es sich im Wettbewerb neben anderen Ideen durchgesetzt hat. Deshalb setzen wir an bei den schon jetzt vorhandenen Stärken."
In diesem Jahr sind laut Wirtschaftsministerium landesweit insgesamt 17 Wettbewerbe geplant, darunter zwei in der Gesundheitsbranche: „Innovative Gesundheitswirtschaft NRW" sowie „Medizintechnik/Molekular Imaging NRW". Die Wettbewerbe sind Teil des derzeitigen nordrhein-westfälischen EU Ziel 2-Programms, das noch bis 2013 läuft. Laut Gesundheitsministerium stehen im Rahmen des Pro-gramms jährlich 180 Millionen Euro für Wettbewerbe zur Verfü-gung, unter anderem für Maßnahmen im Rahmen der Cluster-Politik.
„Die Clusterwettbewerbe der Landesregierung sind ein richtiger und wichtiger Ansatzpunkt, aber eben nicht alleine", sagt Sozialwissenschaftlerin Evans vom IAT. „Wichtig ist, dass die Innovationsmusik vor Ort gespielt wird. Und da sind solche Netzwerke wie MedEcon Ruhr entscheidend."
Zumindest einige Takte dieser Innovationsmusik spielt auch das Erwin L. Hahn Institut. Immerhin wird dort an einer Technologie gearbeitet, die zumindest in einigen Fällen deutliche Verbesserungen bei der Diagnose und der Be-handlung von Krankheiten bringen kann.
Forschung und Lehre in Nordrhein-Westfalen
An 15 staatlichen und privaten Universitäten wird in Nordrhein-Westfalen geforscht und gelehrt, darunter an acht medizinischen Fakultäten in Aachen, Bochum, Bonn, Düsseldorf, Duisburg-Essen, Köln und Münster sowie an der privaten Universität Witten-Herdecke. In den Universitätsklinika des Landes werden laut Wissenschaftsministerium jährlich knapp 270.000 Patienten stationär und mehr als 600.000 Patienten ambulant behandelt.
Neben den staatlichen und privaten Universitäten gibt es eine Vielzahl von privaten Forschungsinstituten wie etwa das Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie in Dortmund, das Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin in Münster und Institute der Fraunhofer-Gesellschaft. In der Nähe von Aachen hat das renommierte Forschungszentrum Jülich seinen Sitz.
Verena Bast lebt in Wuppertal und arbeitet als freie Journalistin.