Steigende Gesundheitsausgaben erhöhen die Wohlfahrt der Gesellschaft! Wie bitte? Glauben wir nicht seit Jahrzehnten an das genaue Gegenteil? Doch dass Kostendämpfung ein Holzweg ist, behaupten nicht Lobbyisten, sondern renommierte amerikanische Gesundheitsökonomen. In Deutschland heißt das Zauberwort „soziale Gesundheitswirtschaft": Höhere Gesundheitsausgaben könnten ein neues Wirtschaftswunder einleiten.
Die jüngste Gesundheitsreform könnte einen Paradigmenwechsel markieren – den langsamen Abschied von einem guten Vierteljahrhundert Kostendämpfungs-Politik. Denn auch wenn man im „GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz" (GKV-WSG) noch Kostendämpfungs-Vorschriften findet – letztlich wird mit dieser Reform zum ersten Mal seit dem Beginn der Kostendämpfungs-Gesetzgebung akzeptiert, dass mittelfristig mehr Geld in das Gesundheitssystem fließen muss, wenn man das Leistungsniveau aufrechterhalten und den Versicherten medizinische und medizintechnische Innovationen zugutekommen lassen will. Unter anderem soll dies mit dem Mittel anwachsender Steuerzuschüsse erreicht werden.
Mehr Ausgaben statt Kostendämpfung
Dennoch: Der offizielle Abschied nicht nur der deutschen Gesundheitspolitik vom Paradigma der Kostendämpfung und der Möglichkeit, durch ökonomischen Druck auf die Leistungserbringer Rationalisierungsreserven in vielfacher Milliarden-Höhe endlich fürdie Patienten nutzbar zu machen, wird noch ein paar Jahre dauern. Doch es gibt zunehmend Stimmen in der ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Diskussion, die nahelegen, dass die Politik sich mit dem Paradigmenwechsel beeilen sollte, weil sie so der Wohlfahrt der Gesellschaft mehr dient als mit Kostendämpfung.
Herausragendes Beispiel ist ein gerade in der Ausgabe 2/2007 des renommierten „Quarterly Journal of Economics" erschienener Beitrag der mindestens ebenso renommierten amerikanischen Gesundheitsökonomen Robert E. Hall von der Stanford University und Charles I. Jones von der Berkeley University: Unter dem Titel „The Value of Life and the Rise in Health Spending" entwickeln die beiden Ökonomen entlang der akzeptierten ökonomischen Theorie ein Analyse- und Prognose-Modell, das zeigt: Mit zunehmendem Wohlstand von Gesellschaften nimmt die Präferenz für weiteren Konsum ab – die Präferenz für Ausgaben für die Gesundheit, genauer: für eine zunehmende Lebenserwartung, aber nimmt gleichzeitig zu.
Die ökonomisch-theoretische Erklärung: Während der marginale Nutzen für noch mehr Konsum mit wachsendem Einkommen sinkt, bleibt dieser für ein längeres Leben gleich hoch. Oder, anders ausgedrückt: Gesundheit ist ein superiores Gut, das mit wachsendem Einkommen verstärkt nachgefragt wird. Damit verändert sich, so die Autoren in ihrem Grundsatz-Beitrag, die optimale Zusammensetzung der Gesamtausgaben in Richtung auf einen höheren Anteil an Gesundheitsausgaben. Denn „die Menschen schätzen Ausgaben für die Gesundheit, weil dies ihnen erlaubt, länger zu leben und ein besseres Leben zu genießen".
Die historischen Ausgangsdaten sprächen für ihre These, so die beiden Ökonomen. So habe der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt der USA im Jahre 1950 5,2 Prozent betragen, im Jahr 1975 bereits 9,4 und im Jahr 2000 15,4 Prozent. Die durchschnittliche Lebenserwartungbei der Geburt habe 1950 bei 68,2 Jahren gelegen, 1975 bei 72,6 und im Jahr 2000 bei 76,9 Jahren. Je älter und wohlhabender Menschen würden, umso höher würden sie den Wert eines zusätzlichen Lebensjahres gegenüber einem dritten Auto, einem weiteren Fernseher oder weiterer Kleidung schätzen. Und wörtlich: „Ein zentraler Weg, um den Nutzen unserer Lebenszeit zu erhöhen,
ist, dem Leben zusätzliche Lebensperioden hinzuzufügen."
30 Prozent für maximale Wohlfahrt
Sie stellen auch die weit verbreitete These in Frage, der starke Anstieg der Gesundheitsausgaben in hoch entwickelten Industrieländern sei vor allem auf die Fehl- oder Übernutzung von medizinischen und medizintechnischen Innovationen zurückzuführen. Vielmehr, so betonen sie, würden teure Technologien deshalb geschätzt und verwendet, weil sie einen Beitrag zum Anstieg des Lebenswertes leisteten.
Bei der Überprüfung des von ihnen entwickelten Modells mit historischen Daten der USA für die Zeit von 1950 bis 2000 ließ sich die tatsächliche Entwicklung komplett nachzeichnen – der zentrale Grund, weshalb Hall und Jones davon überzeugt sind, dass sich mit diesem Prognose-Modell auch der optimale Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) eines Landes für künftige Entwicklungen vorhersagen lässt. Für die USA kommen die beiden Ökonomen zu dem Ergebnis, dass der optimale Anteil der Gesundheitsausgaben von derzeit rund 15 auf etwa 30 Prozent im Jahr 2050 steigen wird.
In der Zusamenfassung ihres wissenschaftlichen Fachbeitrages betonen die Autoren, dass aus ihrer Sicht ein Anteil von 30 Prozent oder mehr am BIP für die Maximierung der sozialen Wohlfahrt in den USA erforderlich sei und dafür auch eine entsprechende Weiterentwicklung des gesamten Systems. Von welchem Blickwinkel man es auch immer betrachte – sowohl die historischen als auch diekünftigen Anstiege des Anteils der Gesundheitsausgaben seien „wünschenswert".
Die Idee der Sozialen Gesundheitswirtschaft
Nahezu nahtlos an die Argumentation der beiden amerikanischen Gesundheitsökonomen schließt die Idee von der „Sozialen Gesundheitswirtschaft" an. Dahinter steht ein Mann, der in der Gesundheitsbranche kein Unbekannter ist: Wolfgang Glahn, Gründer der Allgemeinen Hospitalgesellschaft AG (AHG) und heute deren Aufsichtsratsvor-sitzender sowie Aufsichtsratsvorsitzender des Gesundheitsinformations- und Telearzt-Zentrums ife Gesundheits-AG. Wie die Soziale Gesundheitswirtschaft konkret realisiert werden kann und was dazu erforderlich ist, zeigt Glahn in seinem gerade erschienenen Buch „Prosperität statt Offenbarungseid – Soziale Gesundheitswirtschaft – Skizze zur überfälligen Realisierung einer Vision" auf.
Wachsen als Alternative
Die zentrale Botschaft von Wolfgang Glahn: „Boomende Dienstleistung in der Sozialen Gesundheitswirtschaft schafft so viel zusätzliche Wirtschaftsleistung, dass wir die Gesundheit der ganzen Gesellschaft daraus bezahlen können." Medizinische und unternehmerische Kreativität sicherten mit zusätzlicher Wertschöpfung den Wohlstand. In den Fußstapfen der Sozialen Marktwirtschaft saniere so die Soziale Gesundheitswirtschaft die Zukunft. Das soziale Fundament garantiere dabei Qualität und Transparenz und finanziere solidarisch die Gesundheitsversicherung für niedrige Einkommen.
Glahn wörtlich: „Es gibt zur immer weiteren Rationierung der GKV-finanzierten Gesundheitsversorgung im kostenbegrenzten Markt nur eine einzige Alternative: Wachsen. Medizinischer Fortschritt und steigende Lebenserwartung zeigen uns den Weg: Wir erzeugen zusätzliche volkswirtschaftliche Wertschöpfung dort, wo wir sie sinnvoll nutzen und dringend gebrauchen können. Wir machen die gewaltige, innovative wirtschaftliche Potenz von Medizin und Gesunderhaltung zum Motor neuer, gesamtwirtschaftlicher Prosperität. Wir sparen nicht in der Medizin, sondern expandieren."
Der sofortige Umstieg vom heutigen gesundheitlichen Versorgungssystem auf die Soziale Gesundheitswirtschaft könnte nach Glahns Berechnungen innerhalb von fünf Jahren ein zusätzliches Wachstum der Gesundheitswirtschaft von bisher 250 auf 325 Milliarden Euro ermöglichen. Hinzu käme ein Multiplikator-Wachstum in den übrigen Zweigen unserer Volkswirtschaft von weiteren rund 50 Milliarden Euro. Dieses Anwachsen des Bruttoin-landsproduktes um insgesamt 125 Milliarden Euro könnte rund zwei Millionen zusätzliche Arbeitsplätze schaffen.
Dabei finanziert sich eine expandierende Gesundheitsmarktwirtschaft nach den Berechnungen von Glahn selbst: Der konsequent freie Wettbewerbsmarkt schaffe direktes und indirektes Wirtschaftswachstum. Zusätzlich verfügbares Geld sichere die qualifizierte Versorgung aller auf Dauer. Darüber hinaus noch möglicher sonstiger Konsum und freie Mittel für zusätzliches Sparen bewirkten schließlich boomende gesamtwirtschaftliche Prosperität.
Schluss mitder Verteufelung
Doch Glahn nennt auch die Voraussetzungen, die für sein Modell erfüllt sein müssen: Der Einzelne müsse verstärkt dazu angeregt werden, für seine Gesundheit finanzielle Mittel einzusetzen. Bisher geschehe aus seiner Beobachtung und Erfahrung genau das Gegenteil: Zusätzliche, über das von der Gesetzlichen Krankenversicherung bezahlte Maß hinausgehende Gesundheitsangebote würden geradezu verteufelt – ihre Anbieter häufig als Geldschneider abqualifiziert.
Genau umgekehrt müsse es sein – genau so, wie die beiden amerikanischen Ökonomen Hall und Jones es in ihrer wissenschaftlichen Veröffentlichung sehen: Wenn die Menschen aufgrund ihrer Präferenzen mehr Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen wollen, sollte ihnen dies nicht nur ermöglicht werden – sie sollten dazu geradezu ermutigt werden. Glahn wörtlich: „Wir müssen Ärzten, Krankenhäusern und anderen Erbringern von Gesundheitsleistungen, vor allem aber den Menschen, die Leistungen in Anspruch nehmen, endlich das schlechte Gewissen nehmen, das uns über Jahrzehnte eingeredet wurde, wenn wir außerhalb der GKV Gesundheitsleistungen einkaufen."
Gesundheitsmarkt wird Jobmotor
Für eine starke Ausweitung dieses zweiten Gesundheitsmarktes und die Möglichkeit der sinnvollen Kombination der Leistungen des ersten (GKV-) und zweiten (privat finanzierten) Gesundheitsmarktes macht sich auch der Berliner Gesundheitsökonom Prof. Dr. Klaus-Dirk Henke stark: Hier lägen bereits heute erhebliche Wachstumschancen, die sich auch positiv auf den Arbeitsmarkt auswirken würden – ließe man sie nur zu.
So habe das Hamburgische Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) in einer Studie berechnet, dass eine Liberalisierung des deutschen Gesundheitssystems mit einem Anstieg des Anteils der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt auf 14,9 Prozent im Jahre 2020 eine Zunahme der Beschäftigten im Gesundheitswesen um knapp 1,3 Millionen auf dann fast 5,5 Millionen Menschen bewirken würde. Doch das HWWI sagt auch: Je geringer der Grad an Liberalisierung, desto geringer der Zuwachs an Arbeitsplätzen. Die Grundaussage des HWWI-Gutachtens kommt der von Hall und Jones sehr nahe:
Wettbewerbsdefizite, falsche Anreizmechanismen und fortlaufende politisch motivierte Kostendämpfungsmaßnahmen hemmen das Wachstum und eine positive Beschäftigungsentwicklung in unserem Gesundheitswesen. In einem liberalisierten Gesundheitswesen dagegen könnten bis 2020 knapp 1,3 Millionen neue Arbeitsplätze entstehen. Hätten wir bereits heute ein vollständig liberalisiertes Gesundheitswesen, so ließe sich die Arbeitslosenquote um 1,2 Prozentpunkte senken (in 2004 von 10,37 Prozent auf 9,17 Prozent).