Lieferengpässe sind in der Corona-Krise die neue Routine. Vor allem kleineren Kliniken, Pflege- und Seniorenheimen muss nun schnell geholfen werden, fordert Adelheid Jakobs-Schäfer vom BVBG in einem Appell an die Gesundheitspolitik.
Lieferengpässe bei Medizinprodukten und Arzneimitteln sind aktuell Dauerthema in den Medien – vor allem, wenn es sich um Schutzmaterialien für das Personal und Desinfektionsmittel handelt. Die teilweise drastischen Einschätzungen in Experteninterviews erzeugen wenig Vertrauen in der Öffentlichkeit. Zugespitzte Berichte aus anderen europäischen Ländern verunsichern zusätzlich das medizinische Personal.
Warum eigentlich?
Bisher waren Engpässe eher Diskussionsstoff für das Fachpublikum. Jetzt, unter den Bedingungen von Covid-19, steht die Klinikversorgung im öffentlichen Interesse. Die breite Bevölkerung fragt plötzlich nach. Das bislang stille chronische Leiden der „Lieferengpässe“ wird als akuter Notfall wahrgenommen. War es bislang vor allem problematisch für die Patienten, so werden jetzt die Helfer selbst zu Betroffenen. Die öffentliche Diskussion und vor allem die stetigen Nachfragen schüren Ängste in den Kliniken, selbst beim Helfen zu erkranken.
Was ist jetzt wichtig?
Patientenversorgung hat die höchste Priorität. Pflege und Ärzte müssen ihre Arbeit am Patienten sicher ausführen können. Dafür brauchen sie ausreichend und in adäquater Qualität Schutzkleidung sowie Desinfektionsmittel. Schutzmaterialien sind in der Herstellung erfreulicherweise überwiegend einfach. Viele Unternehmen haben die Produktion schon auf den Mehrbedarf ausgerichtet. Andere haben das Sortiment angepasst. Es kommen viel mehr Produkte in den Markt – bisher überwiegend nicht aus Deutschland. Dieser enorme Schub ist jetzt zwingend notwendig, gerade unter der neuen Prämisse des RKI, nach der nunmehr Personen auch in der Öffentlichkeit einen Mund-Nasen-Schutz tragen sollen. Keinesfalls darf der Klinikeinkauf jetzt nach-lassen, gute und seriöse Anbieter zur Mehrproduktion zu bewegen.
Angesichts der Ungewissheit über den Fortgang der Pandemie, den dramatischen Entwicklungen in USA und befürchtete Pandemie-Rückfälle anderer Länder müssen wir uns auf eine länger andauernde Engpasssituation einstellen. Sie ist die neue Routine. Und so kann sie auch beherrschbar werden.
Was müssen wir zusätzlich tun?
Einkaufsprofis brauchen jetzt ihre Erfahrung, ihre Marktkenntnis und ihr Produktverständnis, um in einem geregelten Prozess zuverlässige Sourcing-Anbieter mit entsprechenden Mengen zu finden. Sie müssen sicher entscheiden und vor allem Mehrbedarfe kaufen, um sich selbst und andere zu versorgen. Wenn jeder Anfragen für Kleinstmengen hektisch im internationalen Markt platziert, auf dem völlig Unbekannte zu Höchstpreisen gegen Vorkasse anbieten, dann wird dies nicht zur Normalisierung beitragen.
Bei gestörten Lieferketten brauchen die erfahrenen Kollegen und Kolleginnen im operativen Einkauf und in der Logistik Handlungsspielraum – der ihnen jetzt auch gewährt werden muss. Wenn Kliniken komplette Halbjahresbedarfe bestellen und dadurch unnötig viel Material in der Peripherie gelagert wird, dann kommt es dadurch zu „Scheinengpässen“. Es braucht in einer solchen Zeit mehr kurzfristige Abstimmung zu Bedarfen zwischen Klinik, Einkauf und Logistik.
Was nutzen kostenoptimierte Logistikprozesse, wenn die Produkte jetzt nicht in der richtigen Klinik auf der Station ankommen, die sie am nötigsten braucht? Damit unter erschwerten Bedingungen die Versorgung bis zur Station klappt, zählen Pragmatismus und Flexibilität. Wir brauchen ebenso Solidarität, gepaart mit Professionalität und Fairness, um Sachmittel richtig zu verteilen an die Orte, wo Patienten und Personal einen Bedarf haben. Es ist keine Zeit zum Bunkern von Beständen und Horten von Reserven ohne Transparenz! Die Versorgungslogistik benötigt mehr Spielraum in der Allokation: Je nachdem, wo an Hotspots Mehrbedarfe in den Kliniken auftreten, muss sie durch ausgleichende Materialumlagerung in Logistikzentren kompensieren können.
Wer benötigt unsere besondere Aufmerksamkeit?
Große Einrichtungen liegen ohnehin im Fokus der Versorgung. Sie wissen sich angesichts der eigenen hohen Bedarfe – nach meiner persönlichen Einschätzung – selbst einigermaßen gut zu helfen und zu organisieren. Mit der Infrastruktur im eigenen Haus ist durch Engagement und Einsatz viel Kompensation möglich. Hilfreich ist für diese Einrichtungen der Austausch zur Situation und Erfahrungen mit anderen Kolleginnen und Kollegen. Mich erreichen jedoch zunehmend besorgte Telefonate von KollegInnen aus der Grund- und Regelversorgung, von niedergelassenen Ärzten und aus Reha-Einrichtungen.
Insbesondere aber Pflege- und Seniorenheime sind in einer sehr schwierigen Situation. Für das Personal dort sind Schutzmaterialien essentiell. Nur so lässt sich die Versorgung der Bewohner – die fast ausnahmslos zu Risikogruppen zählen – sicherstellen. Bewohner und Mitarbeitern müssen in jedem Falle geschützt werden. Wenn bei mangelnder Prävention durch erhöhte Infektionsraten die Betriebsfähigkeit kollabiert, dann besteht ein hohes Risiko, dass wir Pflegende und Betreute in großer Zahl in Kliniken bringen müssen.
Meine vordringliche Bitte an die Verantwortlichen der Bundesregierung und in den Ländern ist es, vor allem diese Einrichtungen unbürokratisch, kurzfristig, ausreichend und vor allem gleichermaßen in allen Bundesländern mit Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln auszustatten. Wir brauchen hier einen pragmatischen Standard, der bundesweit zuverlässig umsetzbar ist.
Die Gesundheitspolitik muss die akute Notsituation der Pflegenden in den vielen Altenheimen und Pflegeeinrichtungen, sowie in ambulanten Pflegediensten, jetzt in den Fokus des Handelns nehmen. Täglich sorgen sie sich mit hohem Einsatz um die vielen Menschen, die in der medialen öffentlichen Wahrnehmung eher eine geringe Rolle spielen. Gerade weil ein Großteil unseres Wohlstands, unserer Sicherheit und nicht zuletzt unseres guten Gesundheitssystems auf der Lebensleistung der heute Alten und Pflegebedürftigen basiert, dürfen wir sie auf gar keinen Fall vernachlässigen. Diesen Menschen müssen wir jetzt die Fürsorge in der Versorgung zukommen lassen, die sie verdient haben!