Die Prüfungen des MDK sorgen in den Krankenhäusern schon jetzt für reichlich Ärger. Und 2019 wird der MDK noch mächtiger, wenn er offiziell die Rolle der Qualitätspolizei einnimmt. Hinter allem steckt die Frage, wer eigentlich entscheidet, was ein Patient braucht.
Eine alte Frage kommt in neuem Gewand daher: Ist das Glas nun halb voll oder halb leer? Reine Ansichtssache. Ebenso wie die medizinische Frage, ob ein Patient ambulant oder stationär behandelt werden muss, wenn eine Leistenoperation ansteht oder ein Herzschrittmacheraggregat wegen Batterieerschöpfung auszutauschen ist. Die Ansichten gehen nur allzu oft auseinander; die Frontlinie verläuft zwischen dem Krankenhaus beziehungsweise dem behandelnden Arzt einerseits und dem Prüf-Arzt des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) andererseits. Das Glas ist halb voll, sagt der MDK, der Patient ist rüstig genug oder verträgt einen ambulanten Eingriff. Nein, das Glas ist halb leer, der Patient muss sicherheitshalber stationär aufgenommen werden, argumentiert das Krankenhaus.
Das Ganze ist mehr als ein Streit von Medizinern. Es geht mindestens um Geld – um sehr viel Geld. Der MDK prüft die Abrechnungen der Krankenhäuser im Auftrag der Krankenkassen. Wenn Kliniken falsch kodieren und dadurch die Behandlung von Patienten nicht korrekt abrechnen, kürzt der Dienst die Vergütung. Rund 2,2 Milliarden Euro fließen so jährlich von den Kliniken zurück an die Krankenkassen, weiß Dr. Nikolai von Schroeders, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Medizincontrolling (siehe Interview).
Für die Kliniken wächst die Unsicherheit. Mittlerweile bilden sie Rückstellungen in Millionenhöhe, weil sie nicht wissen, welchen Anteil der Vergütung die Krankenkassen über den MDK sich von ihnen wieder zurückholen werden. Dr. Gerald Gaß, Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) und Geschäftsführer des Landeskrankenhauses in Rheinland-Pfalz, beziffert die Rückstellungen für sein Haus auf mittlerweile zehn Millionen Euro (siehe Interview).
Das Groteske: Kliniken und Krankenhäuser beschäftigen in ihrem Streit um das halb volle oder halb leere Glas viele Hundert Mitarbeiter; von Schroeders beziffert die Kosten dafür auf 1,7 Milliarden Euro. Unterm Strich geht es also um gerade mal 500 Millionen. Bei einem Gesamtvolumen von rund 70 Milliarden Euro an Kassen-Geldern, die im Rahmen der Fallpauschalen jährlich von den Kassen an die Kliniken fließen, kein Mini-Betrag, aber eben auch nicht der Löwenteil.
Doch er reicht aus, damit in den Krankenhäusern die Wut immer weiter wächst. In einer aktuellen „Denkschrift“ mit dem Titel „SOS – Notruf aus allen Krankenhäusern an die Politik“ beklagt die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) „inakzeptable Kürzungen der Vergütungen für erbrachte Leistungen“. Die Klinikmitarbeiter – Ärzte wie Pflegekräfte – sähen sich „zunehmend mangelnder Wertschätzung und Misstrauen sowie einer undurchdringlichen, demotivierenden und belastenden Regelungsfülle ausgesetzt“. Die DKG bemängelt darin auch, dass die Gerichte, insbesondere das Bundessozialgericht, zu sehr im Sinn der Kassen entscheiden.
Die Kassen weisen den Vorwurf, sie würden den MDK als Kostensenkungsinstrument missbrauchen, freilich entsetzt zurück. „Was für eine absurde Idee! Die Prüfung insbesondere von auffälligen Rechnungen ist eine gesetzliche Aufgabe, deren Notwendigkeit sich leider in der Praxis immer wieder bestätigt“, teilt Florian Lanz, Sprecher des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-SV), auf Anfrage mit.
Die Krankenhäuser fordern, den MDK aus dem Einflussbereich der Krankenkassen zu lösen. Das Urteil, ob das Glas halb voll oder halb leer ist, soll nicht mehr eine kassennahe Institution fällen. In der Bundesregierung besteht dazu offenkundig die Bereitschaft; zumindest berichtete der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, bei den Biersdorfer Krankenhausgesprächen Mitte September, im BMG werde daran gearbeitet, dem MDK eine von den Krankenkassen unabhängige Struktur zu geben. „Wir sind mitten in der Diskussion, wie wir Neutralität herstellen“, sagte Westerfellhaus. Die Kassen weisen solche Bestrebungen zurück. Dr. Mani Rafii, Vorstandsmitglied der Barmer, sagte in Biersdorf: „Ich sehe keinen Bedarf für Veränderung.“
In den Kliniken wächst der Unmut
Hinter dem Streit um die Stellung des MDK und ums Geld schwelt ein anderer, viel grundsätzlicherer Konflikt: Wer bestimmt, was ein Patient braucht und was er bekommt – die behandelnden Ärzte in den Krankenhäusern oder die begutachtenden Mediziner des MDK, die den Patienten nie zu Gesicht bekommen? Medizin nach Kassen-Gusto? Zumindest viele Ärzte in den Krankenhäusern sehen diese Gefahr. Dagegen werfen die Kassen den Klinikmanagern mehr oder weniger unverhohlen Raffgier und Unfähigkeit vor: „Von der Ausstattung mit Pflegepersonal bis hin zu der Einführung von neuen, aber unsicheren Behandlungsmethoden zeigen die Kliniken in der Praxis immer wieder, dass man deren Management damit besser nicht alleine lassen sollte. Wir legen großen Wert darauf, dass die Entscheidungen in den Kliniken fachlich aufgrund der Bedürfnisse der Patienten und der medizinischen Notwendigkeiten getroffen werden und nicht unter der Ertragsoptimierungsperspektive des Managements“, sagt Lanz.
In den Krankenhäusern treiben solche Aussagen den Blutdruck von Geschäftsführern und Chefärzten nach oben. Krankenkassen und MDK mutieren hier immer mehr zu Feindbildern. Bereits Ende 2017 wetterte Prof. Dr. Hans Martin Hoffmeister, erster Vizepräsident des Bundesverbands der deutschen Internisten (BDI) und Chefarzt für Kardiologie und Allgemeine Innere Medizin im Städtischen Klinikum Solingen, per Pressemitteilung gegen die MDK-Prüfung, beklagte „Verwerfungen in der klinischen Versorgung“. Hoffmeister verweist unter anderem auf den Katalog der Operations- und Prozedurenschlüssel (OPS), den das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) jährlich veröffentlicht und der unter anderem festlegt, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit eine Klinik für einen Behandlungsfall eine bestimmte Fallpauschale abrechnen kann.
Die Strukturvorgaben seitens des DIMDI für die intensivmedizinische Komplexpauschale etwa bezeichnet Hoffmeister als „überzogen“. Die Krankenkassen nutzen die komplexen Regelungen aus und beauftragen den MDK, zu prüfen, ob ein Krankenhaus jedes Detail einhält. Falls nicht, werden die angesetzten DRG regelmäßig ersatzlos gestrichen. Es genügt laut BDI schon, wenn einzelne Strukturmerkmale nicht durchgängig dokumentiert, jedoch von den Kliniken erbracht worden seien. „Die Strategie des von den Kassen gesteuerten MDKs bedroht die flächendeckende, qualitativ hochwertige Versorgung der Bevölkerung“, warnt Hoffmeister. „Es geht nicht um die Verbesserung der medizinischen Versorgungsqualität, sondern um eine reine Kostensenkung in der stationären Versorgung“, attackiert er den MDK. Nebenbei werde auf diesem Weg in die Krankenhausplanung der Bundesländer eingegriffen, da ihre krankenhausplanerischen Vorgaben durch die definierten Strukturmerkmale innerhalb der OPS-Codes, welche die Grundlage zur Abrechnung der Fallpauschalen bilden, untergraben werden.
Konkret kritisiert Hoffmeister auf Anfrage der f&w, dass der OPS-Code 2018 „deutlich verschärft“ worden sei und dem MDK damit großes Kürzungspotenzial in der Vergütung bereitstelle. Beispiel: Damit ein Krankenhaus nicht nur die normale und günstigere intensivmedizinische Komplexbehandlung, sondern auch die sogenannte aufwendige und mit einer deutlich höheren DRG versehene abrechnen könne, müsse das Krankenhaus sicherstellen, dass rund um die Uhr ein Arzt mit intensivmedizinischer Zusatzqualifikation innerhalb von 30 Minuten am Bett des Patienten sein könne. „Das prüft der MDK“, erklärt Hoffmeister. Bis 2017 sei ausreichend gewesen, wenn der Leiter der Intensivmedizin eine solche Zusatzqualifikation gehabt habe. „Der MDK prüft nun, ob ein Intensivmediziner 24 Stunden am Bett verfügbar war. Da braucht man fünf bis sechs solcher Oberärzte, die eine eigene Dienstreihe bilden“, erklärt Hoffmeister.
Wenn nur in einer Nacht ein Oberarzt mit dieser Zusatzqualifikation gefehlt habe, gelte: Die Gesamtvergütung schrumpft auf „normal“, das Zusatzentgelt entfällt. Dem Krankenhaus entgehen Hoffmeister zufolge 5.000 bis 20.000 Euro, obwohl der Patient nicht nachweislich schlechter behandelt worden sei. „Das ist unsachgemäß“, kritisiert Hoffmeister. Sachgemäß wäre aus seiner Sicht, die Vergütung um zehn bis 15 Prozent für den einen Tag zu kürzen. „Es ist unfair, alles zu streichen, wenn der Patient ansonsten korrekt nach den OPS-Standards über Wochen behandelt wurde.“ Ist eine Behandlung medizinisch so viel schlechter, wenn ein Oberarzt ohne intensivmedizinische Zusatzqualifikation einen Intensivpatienten für einige Stunden betreut, dass ein drastischer Vergütungsabschlag gerechtfertigt ist?
Noch unklarer ist häufig der Streitpunkt ambulant oder stationär. „Zwischen uns und dem MDK gibt es oft Diskussionen, was ambulant möglich ist und wann eine stationäre Aufnahme nötig ist“, berichtet Hoffmeister. Als Beispiel nennt der Internist einen 90-jährigen Patienten, bei dem ein operativer Eingriff nötig ist, weil die Batterie des Herzschrittmachers ausgetauscht werden muss. Theoretisch gehe das durchaus ambulant und damit zu geringeren Kosten, gesteht Hoffmeister zu. Aber wenn der Patient vielleicht bereits eine leichte Demenz habe, müsse er stationär beobachtet werden. Es sei schon vorgekommen, dass ein solcher Patient den eigenen Zeigefinger tief in seine Wunde gelegt hatte, weil er nicht mehr gewusst habe, was er da habe. So etwas sei bei einer stationären Aufnahme leichter zu verhindern. „Aber der MDK streicht so eine stationäre Behandlung regelhaft“, klagt Hoffmeister, weil „der MDK immer vom gesunden 60-Jährigen ausgeht“. Hoffmeister: „Ich bin überzeugt, dass ein Arzt des MDK Patienten vielfach auch stationär aufnehmen würde, wenn er sie selbst behandeln müsste, aber als Abrechnungsprüfer die stationäre Aufnahme kritisiert.“ Deshalb dürfe die Trägerschaft des MDK nicht weiter bei den Krankenkassen liegen, fordert auch Hoffmeister. Nur so lasse sich eine „einseitige und unsachgemäße Beeinflussung“ verhindern.
Ein Bußgeld-Katalog wäre ein No-Go
Im Streit um halb volle oder halb leere Gläser, um die Frage, was medizinisch notwendig ist und wie ein Patient gut versorgt wird, rüsten Krankenhäuser und MDK auf. Kliniken beklagen, dass der MDK in immer größerer Mannstärke auftritt. Kodierfachkräfte sind gefragt wie nie. „Ich finde das Aufrüsten sowohl beim MDK als auch bei den Krankenhäusern höchst bedenklich, denn letztlich werden den Krankenhäusern Mitarbeiter entzogen, die dann in der Patientenversorgung fehlen“, sagt Joachim Gemmel, Vorsitzender der Hamburgischen Krankenhausgesellschaft und Mitglied der Geschäftsführung der Asklepios Kliniken Hamburg GmbH.
Und der MDK? Sieht das alles selbstredend völlig anders. Ende Juni hatte der MDK-Spitzenverband (MDS) zur Pressekonferenz in Berlin geladen. Jede zweite geprüfte Abrechnung der Krankenhäuser sei falsch, klagte damals der Geschäftsführer des MDK Sachsen, Dr. Ulf Sengebusch. Im Mittel hätten die Kliniken 1.000 Euro zu viel pro Fall abgerechnet. „Nach mittelweile weit über zehn Jahren Erfahrung mit dem DRG-System ist davon auszugehen, dass sich hier einige Anbieter durch erlösorientiertes Up- und Falschcoding Vorteile zulasten anderer Krankenhäuser und zulasten der Solidargemeinschaft verschaffen wollen“, keilte Sengebusch gegen die Kliniken und forderte noch mehr Sanktionsmöglichkeiten gegen die Krankenhäuser. Ihm wäre es am liebsten, wenn Kliniken nicht nur zu viel erhaltene Gelder zurücküberweisen müssten. Er stellt sich einen darüber hinausgehenden Bußgeldkatalog vor. „Das wäre eine schöne Lösung“, sagte er.
Bürokratie statt Dienst am Patienten: Krankenhäuser klagen zunehmend, dass die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MDK) ihnen Fachpersonal abwerben würden. Dieses kommt dann zurück in die Krankenhäuser und prüft deren Abrechnungen auf Herz und Nieren. Der MDK-Spitzenverband (MDS) bestreitet allerdings einen massiven Personalaufbau in den vergangenen Jahren. Seine Statistik für die Jahre 2008 bis 2017 zeigt eher einen moderaten Zuwachs bei Ärzten und Assistenzpersonals (s. Tabelle S. 880), also jenen Berufsgruppen, die Klinikabrechnungen prüfen. Der deutliche Aufbau beim Pflegepersonal sei allein auf die neue Begutachtung von Pflegebedürftigen und deren Pflegegrade zurückzuführen, heißt es beim MDK. Eine Sprecherin erklärt auf Anfrage: „Abrechnungsprüfungen für Krankenhäuser machen die in jedem Fall nicht.“ Auch die massive Ausschreibung (siehe Interview) von Prüfleistungen an externe Dienstleister bestätigt der MDK nicht. „Um Auftragsspitzen abzufedern, können von den MDK externe Gutachterinnen und Gutachter beauftragt werden. Von den rund 2,6 Millionen DRG-Prüfungen im Jahre 2017 wurden 6,6 Prozent von externen Gutachterinnen und Gutachtern erledigt“, erklärte die Sprecherin weiter. Im Internet finden sich allerdings entsprechende öffentliche Ausschreibungen des MDK Niedersachsen.
Ein gewisses Bekenntnis zu Abwerbeversuchen gab Dr. Mani Rafii, Mitglied im Vorstand der Barmer, bei den Biersdorfer Krankenhausgesprächen Mitte September ab. Zu entsprechenden Vorwürfen vonseiten der Klinikmanager sagte er: „Ich finde es nicht schlimm, dass Krankenschwestern und Ärzte beim MDK arbeiten.“ Schließlich müsse sich der Prüfdienst ansonsten vorwerfen lassen, keine ausreichende Kompetenz zu haben. Zur Frage der Unabhängigkeit des MDK sagte Rafii: „Ich sehe keinen Bedarf für Veränderung.“
Das würde aus seiner Sicht vor allem jene Häuser sanktionieren, die aus MDK-Sicht gezielt Rechnungen manipulieren. Denn im Durchschnitt ist laut MDS zwar jede zweite geprüfte Abrechnung falsch. Diese verteilten sich aber auf wenige Häuser. Bei vielen anderen Häusern habe der MDK dagegen kaum etwas zu beanstanden, sagte Sengebusch.
Für die Krankenhäuser ist ein Bußgeld-Katalog ein No-Go, doch trotzdem müssen sie sich eher auf mehr Rechte für den MDK einstellen als auf weniger, zumindest wenn die aktuelle Rechtslage so bleibt. Denn ab dem kommenden Jahr kann der MDK kontrollieren, ob Kliniken die Qualitätsvorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) einhalten. Das gelte etwa für bestimmte Operationen wie spezielle Herzklappensysteme, für die Kliniken vorgegebene personelle und technische Voraussetzungen erfüllen müssen. „Der MDK ist aufgrund seiner fachlichen Erfahrungen gut auf diese Aufgabe vorbereitet. Wir sehen hier eine Chance, die Qualität in der stationären Versorgung für die Patienten zu verbessern“, kündigte Sengebusch an. Aus Sicht vieler Kassenfunktionäre ist das Qualitätsglas der Krankenhäuser in Deutschland ziemlich leer – wenn überhaupt, halb voll. Die Politik stärkt diese Sicht mit der neuen Rolle des MDK als Qualitätspolizei.