Bei den Themen Patientensicherheit und klinisches Risikomanagement konnte in den vergangenen 20 Jahren auf internationaler Ebene viel erreicht werden. Neben dem Pandemiemanagement werden auch die nichtklinischen Bereiche mehr Aufmerksamkeit erfahren.
Die Konfrontation mit der Corona-Pandemie hat noch mal deutlich gezeigt: Gesundheitsförderung, Prävention und Krankheitsbeherrschung erfordern globale Strategien; Systemgrenzen dürfen nicht nur, sondern müssen überschritten werden. Denn neben einem hohen Qualitätsniveau einer abgestimmten Medizin und Pflege sind vielfältige sektorübergreifende Aufgaben zu erledigen, um die Sicherheit von Patienten zu gewährleisten. Dies ist nicht nur ethisch geboten, sondern auch ökonomisch hochrentabel: Patientensicherheitsdefizite und die Bewältigung ihrer Folgen verursachen laut der ersten OECD-Studie „The Economics of Patient Safety“ aus dem Jahre 2017 rund 15 Prozent der Krankenhauskosten, und ihre Krankheitslast entspricht weltweit etwa der von Malaria oder Tuberkulose.
Bereits Anfang des Jahrtausends griffen die Vereinten Nationen das Thema Patientensicherheit als globale Herausforderung bei ihrer 55. Weltgesundheitsversammlung auf, aber zunächst folgten überwiegend nationalstaatliche und regionale Umsetzungsinitiativen mit ganz unterschiedlichem Ausprägungs- und Durchdringungsgrad für die jeweiligen Gesundheitssysteme. Seit der Gründung der World Alliance for Patient Safety der WHO im Jahre 2004 engagierten sich dann zunehmend Expertenteams im Global Patient Safety Network und entwickelten Präventionskonzepte primär für den klinischen, aber auch für den nichtklinischen Bereich. Dies mit dem Ziel, Erkenntnisse aus nationalstaatlichen Gesundheitssystemen zu sammeln, zu evaluieren und zu vernetzen. 2006 etablierten sich auf Empfehlung der EU-Kommission das European Network for Patient Safety (EUNetPaS) sowie das European Union Network for Patient Safety und Quality of Care (PaSQ), die aber die internationalen Strategien auf europäischer Ebene nicht nennenswert voranbringen konnten.
Austausch auf höchster Ebene
Einen wesentlichen Impuls setzten im Jahr 2016 der damalige deutsche Gesundheitsminister Hermann Gröhe und sein britischer Kollege Jeremy Hunt mit dem Start der Global Ministerial Summits on Patient Safety, zunächst als bilateral deutsch-britische Veranstaltung und 2017 in Bonn erstmalig als Weltgipfel für Patientensicherheit auf hochrangiger Ministerebene als gesundheitspolitisches Begegnungsforum zur Kommunikation, Kooperation und Operationalisierung weltweit relevanter Patientensicherheitsstrategien. Nach Folgeveranstaltungen 2018 in Tokio und 2019 in Jeddah musste 2020 der 4. Global Summit in Montreux pandemiebedingt verschoben werden. Es zeigt sich derzeit umso deutlicher, dass die Treffen mit ihren Impulsen in der Post-Corona-Phase fortgesetzt werden müssen. Ein zentrales Thema steht mutmaßlich bereits fest: Patientensicherheit im Pandemiemanagement.
Auf maßgebliche Anregung des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) wurde beim Ministertreffen 2017 in Bonn eine Resolution der Weltgesundheitsversammlung (WHA) der WHO zu globalen Maßnahmen im Bereich der Patientensicherheit auf den Weg gebracht, die bei der 72. WHA 2019 verabschiedet werden konnte. Die WHO-Mitgliedstaaten sind unter anderem aufgefordert, Patientensicherheit als gesundheitspolitische Aufgabe zu priorisieren. Gleichzeitig wurde die internationale Zusammenarbeit zugesagt, ebenso wie die Unterstützung bei der Organisation weiterer Ministergipfel. Ausdrücklich zur Steigerung der Sichtbarkeit der Patientensicherheitsinitiativen wurde der 17. September jedes Jahres zum Welttag der Patientensicherheit der WHO erklärt. Das Datum war nicht zufällig gewählt, sondern ging auf einen Antrag aus Deutschland zurück, da das Aktionsbündnis Patientensicherheit gemeinsam mit allen deutschsprachigen Staaten den 17. September bereits seit 2015 für einen Internationalen Patientensicherheitstag genutzt hatte.
Auch die G-20-Staaten nahmen 2020 Patientensicherheit auf ihre politische Agenda: Dies erfolgte nicht zuletzt auf Initiative der Präsidentschaft Saudi-Arabiens, da dort 2019 der Global Summit stattfand. Unter dem Einfluss der Covid-19-Pandemie listete auch Italien im Rahmen seiner G-20-Präsidentschaft Patientensicherheit im Jahr 2021 als Arbeitsthema auf. Die Initiative der G-20-Staaten hat dabei zwei Zielrichtungen:
- Die von der WHO und internationalen Fachorganisationen gesammelten Erfahrungen sollen an die spezifischen Bedürfnisse der Gesundheitssysteme entwickelter Industrienationen adaptiert werden und
- die Verantwortung der G 20 für die Unterstützung von Low-and-Middle-Incomce-Countries (LMIC) soll ausgestaltet werden, also die Voraussetzung geschaffen werden, Patientensicherheit auch in Gesundheitssystemen der LMIC zu gewährleisten.
Die 2017 mit den Global Summits auf den Weg gebrachte politische Initiative wird seither insbesondere durch Studienberichte der OECD begleitet, die eine immer bessere Datenbasis schaffen. Die erste Publikation „The Economics of Patient Safety“ beschreibt im Rahmen einer Metastudie „Auswirkungen der Patientensicherheit auf die medizinischen Versorgungssysteme weltweit“ und kommt zu dem Ergebnis, dass insbesondere im stationären Bereich behandlungsassoziierte Infektionen, venöse Thromboembolien, Druckgeschwüre, Medikationsfehler sowie falsche und verspätete Diagnosen die häufigsten Ursachen für Schäden sind. Die Folgen sind für Patienten stets gravierend und für die Gesundheitssysteme und die einzelnen Institutionen teuer. Dies bedeutet im Umkehrschluss aber, dass jede Investition in Sicherheit eine erhebliche Kostenreduktion in besonders patientensicherheitsrelevanten Bereichen ermöglicht. In diesem Sinne wurden in den Resolutionen zum Abschluss aller Global Summits die Entscheidungsträger in den Gesundheitssystemen nachdrücklich aufgefordert, sichtbar für die Patientensicherheit einzutreten und Ärzte, Pflegende und sämtliche Gesundheitsberufe für dieses gemeinsame Ziel zu motivieren. Dies sei die preiswerteste gesundheitspolitische Maßnahme.
Fokus auf weitere Versorgungsbereiche
Ohne Frage konnte zu den Themen Patientensicherheit und klinisches Risikomanagement in den stationären Versorgungsbereichen in den vergangenen 20 Jahren viel erreicht werden. Laut OECD hat aber die Hälfte der weltweiten Patientensicherheitsdefizite ihren Ursprung im nichtklinischen, ambulanten Bereich. Wenn man bedenkt, dass 2019 circa 718 Millionen ambulante Behandlungsfälle in Deutschland 19,85 Millionen stationären Behandlungen gegenüberstanden, zeigt sich die Relevanz der intensiveren Beschäftigung mit Patientensicherheitsstrategien im nichtklinischen Bereich. Der entsprechende OECD-Bericht listet eine Auswahl internationaler Best Practices auf und bewertet deren Eignung für die ambulante Praxis. Im aktuell vierten OECD-Bericht „The Economics of Patient Safety: From Analysis to Action“ werden unter Einbezug des ambulanten Bereichs die durch unsere Patientenversorgung insgesamt gebundenen Ressourcen mit 13 Prozent der Gesamtgesundheitsausgaben beziffert, was die Relevanz der Betrachtung aller Versorgungsbereiche nochmals unterstreicht.
Der dritte OECD-Bericht „The Economics of Patient Safety: Long-Term Care (LTC)“ greift den langzeitpflegerischen Versorgungsbereich unter dem Blickwinkel der Patientensicherheit auf. Es handelt sich ohne Frage neben der Intensivmedizin und -pflege um den am stärksten im Pandemiemanagement belasteten Versorgungsbereich unseres Gesundheitssystems. Angesichts der Entwicklung vieler Industriestaaten zu einer „Gesellschaft der alten Menschen“ werden die Kosten der Langzeitpflege im OECD-Durchschnitt in den nächsten 50 Jahren um rund 60 Prozent steigen.
Vermeidbare, unerwünschte Ereignisse führen in diesem Bereich laut OECD im Durchschnitt zu 2,5 Prozent der Krankenhausausgaben. Sie lassen sich jedoch erheblich reduzieren, da die auslösenden Schädigungen wie Druckläsionen, Stürze und Folgen einer Poly- und Fehlmedikation mit angemessenen Patientensicherheitsmaßnahmen kompensierbar sind.
Die Resolution der Weltgesundheitsversammlung 72.6 fordert die WHO in Absprache mit den Mitgliedstaaten auf, einen globalen Aktionsplan für Patientensicherheit aufzustellen. Der Plan wurde zwischenzeitlich von einer WHO-Arbeitsgruppe unter Beteiligung des BMG entworfen und wird seit 2020 sukzessive weiterentwickelt. Der „Global Patient Action Plan für die Jahre 2021–2030“ orientiert sich an nachhaltigen Entwicklungszielen (SDG – Sustainable Development Goals) und benennt klare strategische Ziele, an denen sich die Handlungsschritte und Maßnahmen für die 2020er-Jahre orientieren müssen:
- Maßnahmen zur Verhinderung und Beseitigung vermeidbarer Schäden,
- Schaffung von Systemen mit hoher Zuverlässigkeit,
- Sicherheit klinischer Prozesse,
- Einbeziehung von Patientinnen und Patienten sowie Angehörigen,
- Ausbildung, Qualifikation und Sicherheit des medizinischen Personals,
- Information, Forschung und Risikomanagement sowie
- Kooperationen und Solidarität.
Unter diesen Zielen sind vielfältige Hilfen zur Operationalisierung gegeben und der Aktionsplan kann künftig als „Werkzeugkasten“ von Gestaltern des Gesundheitssystems auf allen Ebenen genutzt werden.
Die globalen Initiativen sind transsektoral, interdisziplinär und multiprofessionell angelegt und sie sind vielversprechend. Das multidimensionale Bekenntnis der Teilnehmer des 3. Global Ministerial Summits in Tokio am 14. April 2018 fasst die Bedeutung der weltweiten Bewegung wie folgt zusammen: „Wir bekennen unser Engagement zur Aufrechterhaltung einer kraftvollen politischen Dynamik zugunsten globaler Maßnahmen für die Patientensicherheit und zu einer engen Zusammenarbeit mit Ländern weltweit einschließlich jener mit niedrigem und mittlerem Einkommen, um deren Kapazität durch Zusammenarbeit und Lernen zu stärken und das Thema Patientensicherheit mit Maßnahmen und Programmen im Gesundheitsbereich als Schwerpunkt zu behandeln.“