Sterben muss Teil des Lebens werden. Dazu gehört Raum für die Sorgen, Ängste und Nöte von sterbenden Menschen. Physikalischer Raum in Krankenhäusern und Pflegeheimen, in welchem das Abschiednehmen in einer würdigen Umgebung möglich ist. Und zeitlicher Freiraum, nicht zuletzt in der Pflege und der Medizin, der Spielraum für die Hinwendung zum Menschen bieten muss. Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Eckhard Nagel.
Wer den Film „Antonias Welt“ der Niederländerin Marleen Gorris von 1995 gesehen hat, wird diese besondere Szene nicht vergessen: An einem Morgen schaut die mittlerweile 90-jährige Antonia in den Spiegel und beschließt, dass es nun genug sei. Sie ordnet ihre letzten Angelegenheiten, ruft ihre Freundinnen und Angehörigen bis zur Urenkelin zusammen, die sich um ihr Bett versammeln, auf dem sie munter plaudernd und am Schluss lächelnd in den Tod hin-übergleitet. Zu schön, um wahr zu sein?
Was in dieser filmischen Erzählung so leicht und zart daherkommt, hat nur wenig mit dem alltäglichen Sterben in Einsamkeit mit oder ohne Familie, zu Hause oder in Krankenhäusern zu tun. Sterben ist in unserem Land weithin eine abgedrängte Wirklichkeit. Wir wollen leben und mit dem Tod so wenig wie möglich zu tun haben. Der Tod eines anderen Menschen gemahnt immer an die eigene Sterblichkeit. Der Tod eines nahen Menschen ist begleitet von Abschiedsschmerz und Trauer. Das wird heute schnell übergangen – auch in Antonias Welt.
Ars Moriendi heißt Zeit für den Übergang in den Tod
Heute soll das Sterben schnell gehen. Haben die Menschen bis ins 19. Jahrhundert noch um einen gnädigen und sanften Tod gebetet, der ihnen Zeit zur Vorbereitung auf den Tod und zum Abschiednehmen gab, so wünscht sich heute ein Großteil der Menschen einen schnellen und plötzlichen Tod, der genau das nicht mehr zulässt. Im Mittelalter galt beispielsweise die Ars Moriendi als Kunst des guten Sterbens: Ausgehend von der Annahme, dass im Sterbeprozess der finale und unumkehrbare Kampf um die eigene Seele vollzogen wird und sich dabei entscheidet, ob einen am Ende die Hölle und das Fegefeuer, also die Verdammnis, oder das Heil in Form der Erlösung und des Himmels erwartet, beschreibt die historische Ars Moriendi die zentrale Anleitung für den Übergang vom Leben zum Tod.
Diese Sterbekultur war geprägt von der großen Sorge vor einem plötzlich eintretenden Tod. Erstrebenswert war es, Zeit für den Sterbeprozess zu haben. In diesem wird der Sterbende aktiv begleitet, um sein Seelenheil finden zu können. Von der Notwendigkeit, den Sterbeprozess in dieser Form zu durchlaufen, waren die Menschen aller Stände überzeugt. Eine solche Überzeugung reichte bis in die Neuzeit.
Diese Tradition ist in unserer Kultur und unter den Bedingungen einer rationalen Welt mit Hochleistungsmedizin nur schwer zu erlernen. Was macht es uns heute so schwer, mit dem Tod und dem Sterben umzugehen? Die Gründe sind vielfältig. Zu den nachvollziehbaren Stichworten gehört die religiöse Obdachlosigkeit vieler Menschen. Sie macht es ihnen schwer, an das Ende eines irdischen Lebens zu denken. Man muss nicht an Gott glauben, um mit der Frage nach dem Ende dieses Lebens umgehen zu können. Aber an die Stelle der einstmals tragenden, bergenden und orientierenden religiösen Sprache und Symbole ist heute weitgehend Sprachlosigkeit getreten.
Unsicherheiten im Umgang mit dem Sterben
Ein weiterer Grund für die Verdrängung von Tod und Sterben aus dem Leben ist sicher die Vorstellung, Medizin, Technik und Wissenschaft könnten den Menschen (ob Körper und Geist oder nur Geist) so weit optimieren, dass er tendenziell unsterblich ist – eine technisch-utopische Variante der religiösen Hoffnung auf Unsterblichkeit. Es geht darum, die Kränkung (im doppelten Sinne des Wortes) zu beseitigen, dass wir Menschen biologisch einem Verfallsprozess unterliegen, der irgendwann mit dem Tod des Organismus endet.
Doch selbst wenn die Realität des Daseins anerkannt wird, bleiben Unsicherheiten im Umgang mit dem Sterben, die sich aus medizinischen, rechtlichen, ethischen und sozialen Blickwinkeln ergeben: Wann ist ein Mensch tot? Wann beginnt das Sterben? Was ist eine das Leben verlängernde – im Unterschied zu einer den Tod aufschiebenden – Maßnahme? Wann macht sich ein Arzt der Unterlassung schuldig und wann ist sein Tun nicht mehr notwendig? Wo liegt die Grenze zwischen passiver und aktiver Sterbehilfe? Wie kann der Wille eines Menschen hinsichtlich seines Sterbewunsches festgestellt und berücksichtigt werden? Die Liste dieser Fragen lässt sich deutlich verlängern.
Die Unsicherheit in diesen Fragen betrifft nicht nur die Sterbenden und ihre Angehörigen, sondern auch die sie umgebenden Systeme wie Krankenhaus, Sozialversicherung, Rechtssystem, Medizin und Ethik. In der Kombination all dieser Faktoren und der allgegenwärtigen Unsicherheit wird Sterben zu einer heiklen und verdrängten Wirklichkeit.
„Hier bin ich Mensch – hier kann ich es sein …“. Welches Krankenhaus, welche Gesundheitseinrichtung wünschte sich nicht, dass dieser aus Goethes Faust stammende Ausspruch Grundwahrnehmung der zu betreuenden Patientinnen und Patienten sowie ihrer Angehörigen wäre. In den Fällen, in denen schwere Krankheit geheilt wird, in denen eine Besserung eintritt und eine neue Lebensperspektive entsteht, mag nicht der Ort, aber doch das Ergebnis zu solchen Reaktionen führen.
In die öffentliche Aufmerksamkeit kommen solche Wahrnehmungen aber nicht selten aus einer ganz anderen Richtung: Im Rahmen von Traueranzeigen bedanken sich viele Angehörige beim Team der Palliativstation und der Hospize für die einfühlsame, medizinisch hoch qualifizierte und menschlich zutiefst anerkennungswürdige Arbeit, die in höchster Not Trost und Hoffnung gegeben hat.
Mit Palliativmedizin einen Wandel eingeläutet
So wie es in diesen Τagen die Brost-Stiftung in Essen mit der Verleihung des Ruhrpreises an drei verdiente Palliativmedizinerinnen aus Essen und Bochum unter dem Motto „Anerkennung, wem Anerkennung gebührt“ getan hat. Eine Würdigung der Palliativmedizin für das Ruhrgebiet in der Erkenntnis, dass hierdurch eine grundlegende Verbesserung der Lebensbedingungen in der gesamten Region verbunden ist. Die Wahrnehmung der Steigerung der Lebensqualität durch die Etablierung einer neuen Kultur des Sterbens begründet sich mit einer Zunahme an Mitmenschlichkeit und Gemeinschaft. Darauf hat bereits die Juristin Elke Büdenbender, Ehefrau des Bundespräsidenten, in einem gemeinsamen Buch mit dem Titel „Der Tod ist mir nicht unvertraut“ lebensnah und einfühlsam hingewiesen.
Es ist höchste Zeit, den Philosophen Robert Spaemann zu korrigieren, der noch feststellte: „Es ist ja wahr, dass das Sterben in unserem Land seit Langem menschenunwürdig geworden ist. Es findet immer häufiger in Kliniken statt, also in Häusern, die eigentlich nicht fürs Sterben, sondern fürs Geheiltwerden da sind. In der Klinik wird naturgemäß gegen den Tod gekämpft. Nachdem kranke oder alte Menschen auf alle Art zum Leben gezwungen wurden, bleibt ihnen keine Zeit und kein angemessener Raum mehr, das ‚Zeitliche zu segnen‘. Sterberituale verkümmern, Angehörige verdrücken sich, wenn es ernst wird.“
Und das gilt auch für die ansonsten so unverändert aktuelle hippokratische Tradition, die sich über lange Zeit ausschließlich auf das Heilen und das Lindern von Leid fokussierte und dabei festlegte, dass es nicht zum Vertragsverhältnis zwischen Ärztin beziehungsweise Arzt und Patientin beziehungsweise Patient gehört, bei den Leidenden zu bleiben, wenn eine Behandlung keine Aussicht auf Erfolg hat. In vergleichbarer Weise hat etwa auch schon Sokrates aus anderen Kontexten heraus definiert: „Es gehört nicht zum ärztlichen Handeln den Sterbenden zu begleiten.“
Auch dieser Sicht lag eine unüberwindbare, heute unerklärliche Trennung von Leben und Sterben zugrunde. Mit der Entwicklung der Palliativmedizin und der schrittweisen Etablierung der Hospizbewegung ist aber ein Wandel eingeläutet.
Die Bundesärztekammer und die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie haben bereits zur Mitte des letzten Jahrzehnts im ausgehenden Jahrtausend Grundsätze der ärztlichen Sterbebegleitung veröffentlicht. Darin wird deutlich, dass es Aufgabe der Ärzteschaft ist, auch den Unheilbaren und Sterbenden durch menschliche Zuwendung und Linderung von Beschwerden während des Sterbevorgangs beizustehen. Für alle Sterbenden sind menschenwürdige Unterbringung, persönliche Hinwendung, Körperpflege, Lindern von Schmerzen, Atemnot und Übelkeit sowie Stillen von Hunger und Durst unverzichtbar vorgeschrieben. Der Nationale Ethikrat hat sich bereits 2005 in seiner Stellungnahme „Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende“ dafür ausgesprochen, das Angebot an Aus- und Fortbildungen für Ärzte und Pflegende im Umgang mit schwer kranken sowie sterbenden Menschen zu verstärken.
Räume für den Abschied schaffen
Zur gesellschaftlichen Verantwortung gehört auch eine breite Akzeptanz dafür, dass Räume für die Sorgen, Ängste und Nöte von sterbenden Menschen geschaffen werden. Das sind auf der einen Seite physikalische Räume in Krankenhäusern und Pflegeheimen, in denen das Abschiednehmen in einer würdigen Umgebung möglich ist. Das sind aber auch die zeitlichen Freiräume, nicht zuletzt in der Pflege und der Medizin, die ausreichend Spielraum für die Hinwendung zum Menschen bieten müssen. Das Hospiz- und Palliativgesetz ist dazu ein erster und wichtiger Schritt.
Ziel muss es sein, gesamtgesellschaftlich einen selbstverständlicheren Umgang mit dem Sterben und individuell mit dem eigenen Tod zu finden. In Verbindung mit dem Ausbau der Hospizarbeit und Palliativmedizin geht es darum, den Menschen individuell, aber auch der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, die Angst vor dem Sterben bewusst zu machen und somit den Umgang damit zu erleichtern. Speziell angesichts der SARS-CoV-2-Pandemie und den zum Teil gravierend veränderten Rahmenbedingungen des Sterbens in dieser Zeit braucht es zudem eine intensive Debatte mit den Hinterbliebenen und denjenigen in unserer Gesellschaft, die zum Teil traumatische Erlebnisse bei der Verabschiedung ihrer Liebsten erdulden mussten.
Eine neue Kultur des letzten Lebensabschnitts braucht keine neuen Gesetze. Sie braucht eine angemessene finanzielle Ausstattung – vor allem aber Mut und Demut, Zeit, Zuwendung und Zutrauen.