Nach der Sommerpause will Gesundheitsminister Jens Spahn eine eHealth-Strategie vorstellen. Es bleibt zu hoffen, dass er an den richtigen Hebeln ansetzt. Bisher ist es doch so: Das Gesundheitssystem ist, mithilfe der Politik, wie eine Festung organisiert. Drinnen die organisierten Leistungserbringer und Kostenerstatter, die alles nach ihren Regeln organisiert haben.
Alles andere draußen: Die längst bekannten demografischen Herausforderungen ebenso wie die neuen digitalen Werkzeuge, unterschiedliche Versicherten- und Patienteninteressen.
Vor den Toren sammeln sich inzwischen neue Truppen: Apple Health geht in den USA bald an den Start, Amazon rollt seine Gesundheits-Angebote aus. Und das Geld des Innovationsfonds benutzen manche Techologie-Anbieter – Phillips oder IBM mit Watson vorneweg – als Spielgeld, um einen Fuß ins System zu kriegen.
Werden sie die Mauern schleifen? Und: Manche von denen, die draußen bleiben sollen, sind längst drin. Das wird in gesundheitspolitischen Diskussionen aber gern verschwiegen. Investoren mit Venture Capital aus dem In- und Ausland rücken mit Geldkoffern an, um sich ins deutsche Gesundheitssystem einzukaufen:
- In der Onkologie haben sich deutsche Apotheken(ketten) eingekauft.
- Die Labormedizin, wie die Radiologie, wurde von Private Equity erobert.
- Unter den Kardiologen haben sich die Krankenhäuser breitgemacht.
- Operierende Augenärzte sind ebenfalls der Lockung des schönen Geldes (oder des einfacheren Arbeitens) erlegen.
- Und die nächste Welle steht an: Investoren dringen zunehmend unter Dermatologen, Urologen und im Zahnärztebereich ein.
Offiziell bleibt alles, wie es ist
Gesundheitspolitische Debatten finden währenddessen in einer Art Traumwelt statt. In Berlin ansässige Vertreter der Spitzenverbände bescheinigen sich das beste Gesundheitswesen der Welt und ignorieren weitgehend, was draußen und drinnen hinter ihrem Rücken vonstatten geht.
Und das, obwohl die von ihnen getragene Deutsche Apotheker- und Ärztebank (apoBank), ihnen längst die Befindlichkeit ihrer Mitglieder präsentiert hat: Die Mehrheit der Ärzteschaft ist künftig weiblich. Sie will und kann das Risiko der Niederlassung nicht schultern, auch unter Pharmazeuten sieht es nicht besser aus.
Es ist fraglich, ob angesichts dieser Veränderungen, Risiken und Chancen eine isolierte eHealth-Strategie helfen kann. Denn eHealth, also durch Digitalisierung zu erschließendes Effizienz- und Effektivitätspotenzial, ist lediglich ein Werkzeug. Was fehlt, sind Rahmenbedingungen und Akteure, die mutig und kraftvoll genug sind, um von sich aus das Potenzial neuer Technologien und Behandlungsstrategien zu heben. Das „beste Gesundheitssystem von allen“ ist in den Bestandsinteressen und Ritualen so festgemauert, dass sich eben keine neuen Strukturen entwickeln können, damit diese Effizienzgewinne dauerhaft gehoben werden können.
Auch ein dynamischer Gesundheitsminister kann nicht zaubern
Jens Spahn müsste zaubern können, wenn er die vielfach vorgetragenen Wünsche nach einer ganzheitlichen eHealth-Strategie erfüllen wollte:
- Eine ganzheitliche, top down-organisierte eHealth-Strategie kann nicht funktionieren, weil kleinteilige Honorierungsmodelle, gesetzliche Regelungen, die Entscheidungslogik der Gemeinsamen Selbstverwaltung und die Verantwortung der Länder für den Klinikbereich die Umsetzung einer solchen Strategie verhindert.
- Disruption lässt sich schon aus grundsätzlichen Überlegungen nicht planen. Ein Widerspruch, an dem auch der Innovationsfonds krankt. Dort werden neue Dinge gedacht und erprobt – um dann, bei der anschließenden Evaluation und der Entscheidungsfindung mittels Selbstverwaltung, auf höchster Ebene wieder in ihrer Substanz „zerschossen“ zu werden.
Helfen könnten andere, völlig kostenfreie Maßnahmen:
- Eine ordnungspolitische Diskussion, die Erkenntnisse der Innovationsforschung berücksichtigt und für das Gesundheitswesen adaptiert. Geld ist endlich, Politik hat also die zentrale Aufgabe, Rahmenbedingungen zu definieren, damit die Akteure im System von selbst ein Interesse entwickeln, neue Technologien einzusetzen und neue Präventions- und Behandlungsstrategien umzusetzen.
- Neue, zukunftsoffene und dezentrale Konzepte der Regulierung und Honorierung. Kleinteilige Honorierungsgrundsätze nach Einzelleistungen schreien nach „Optimierung“ bis hin zum Missbrauch. Und jede differenzierte Regelung führt zu differenzierteren Antwortstrategien. Ein Übermaß an Regulierung – Gesetze, Verordnungen und Aufsichten – verhindert, dass sich Kassen, Krankenhäuser, MVZ und Praxen bessere Lösungen entwickeln und umsetzen können – auch im Wettbewerb. So blockiert etwa das Bundesversicherungsamt mittels kameralistischer Logik eine Differenzierung der Krankenkassen.
Was fehlt, ist ein Governancemodell, das in erster Linie Verantwortlichkeiten zuweist und zuweisbar macht. Wir brauchen eine neue Balance zwischen Innovationsfähigkeit und gleichmäßiger Versorgung. Entschlackung (weniger Gesetze und Verordnungen), Entrümpelung (wider die systematische Verzögerung von Veränderungen durch zentralistische und korporatistische Gremien) sind Voraussetzungen für mehr Innovation aus dem System heraus. Zudem verhindert eine zunehmende Inanspruchnahme von Gerichten zügige Entscheidungen. Die Beseitigung von Hürden ist eine wesentliche Voraussetzung, um einen durchgängigen Innovationsworkflow von unten zu etablieren.
Durchgängiger Innovationsworkflow notwendig
Die streitbare Gesundheitsministerin Ulla Schmidt hat mit der Etablierung von Spitzenverbänden und einer Logik politischer Steuerbarkeit die Akteure im System, Krankenhäuser, Ärzte, Krankenkassen, zu Bittstellern gemacht, ohne Kraft, notwendige Entscheidungen selbst zu treffen. Das Ergebnis: Immer mehr zentrale „Qualitätsinstitute“, die, gemeinsam mit einer wachsenden zentralen Planungsbürokratie, dem G-BA und dem institutionellen Umfeld, regionale Lösungen verhindern und stattdessen zentralisieren, formalisieren und bürokratisieren.
Es ist an der Zeit, diesen Trend zur Zentralisierung und Bürokratisierung und die damit einhergehende Selbstblockierung der Akteure umzudrehen und die Institutionen selbst, also Versorger und Kassen und neue Akteure „die Dinge besser machen zu lassen“.
Neue Lösungen entstehen dann, wenn genügend Freiraum vorhanden ist, um neue Lösungen zu entwickeln, zu integrieren und auch die institutionellen Bedingungen entsprechend anzupassen. Sie durchlaufen auch verschiedene Stufen der Aggregation.
Entscheidend dafür wird sein, die institutionelle Festlegung (niedergelassene Arztpraxis als Standardmodell der ambulanten Pflege, Krankenhäuser der stationären Versorgung) aufzulösen und eine Aggregation zu größeren Einheiten – HMO, also gesamtheitliche Versorgungsanbieter oder genossenschaftliche Zusammenschlüsse von Ärzten oder Krankenkassen –, zu ermöglichen, die Versorgungsverantwortung übernehmen (Beispiel Israel).
Nach Joseph Schumpeter braucht es dazu „Unternehmerpolitiker“, die ihre Karriereplanung nicht nach dem Modell der Karriereoptimierung betreiben, sondern Verantwortung für die ihnen übertragenen Aufgaben übernehmen.
Jens Spahn ist ein Typ, der Konflikte nicht scheut. Ihn begleiten – bis zum Ende der Sommerpause – unsere Wünsche und Gedanken für eine realistische Bestandsaufnahme und die Entwicklung funktionierender Szenarien, damit die Potenziale digitaler Gesundheit und medizinischen Fortschritts gehoben und die Risiken vernünftig gemangt werden können.
Nikolaus Huss, 61, Geschäftsführender Gesellschafter der KovarHuss GmbH, ist seit über 30 Jahren organisierend und beratend in Sachen Politik unterwegs – insbesondere im Gesundheitsbereich. Inzwischen wachsen seine Zweifel an der Leistungsbeschreibung von Politik. Stattdessen, meint er, sollte die Politik die Leistungsfähigkeit einer liberalen Wettbewerbsgesellschaft auch im Gesundheitsbereich zur Entfaltung kommen lassen.