Architektur kann förderlich für die Genesung sein – jedoch nur, wenn sie den Bedürfnissen der Patienten und des Personals entspricht.
Eine psychiatrische Klinik fungiert während eines stationären Aufenthaltes für die Patientinnen und Patienten als temporäres Zuhause, das sie während ihrer Behandlung bestmöglich unterstützen soll. Studien weisen darauf hin, dass die Architektur das Potenzial hat, ein therapeutisches Milieu zu schaffen, das den Bedürfnissen der Patienten nach Schutz, Sicherheit, Privatheit und Orientierung gerecht wird und somit zu einer erfolgreichen Behandlung beiträgt. Der Entwurf sollte die besonderen Merkmale des Ortes herausarbeiten und dabei eine Atmosphäre schaffen, in der sich sowohl Patienten als auch Personal mit ihren Bedürfnissen wahr- und ernstgenommen fühlen. Trotz einer Vielzahl von Vorgaben und individuellen Rahmenbedingungen bei Bauvorhaben können einzigartige Gebäude mit herausragender architektonischer Qualität entstehen, die bei hoher Funktionalität den Anforderungen an eine genesungsfördernde Architektur gerecht werden.
Bauen in der Psychiatrie
Stellt man sich die Planungsaufgabe eines Psychiatriegebäudes, so drängt sich die Frage auf: Was ist die besondere planerische Herausforderung? Ein Blick in die Ausschreibungstexte für Neu- und Umbauten von psychiatrischen Kliniken erweckt den Eindruck, dass es sich dabei für Architektinnen und Architekten, die sich auf das Bauen im Gesundheitswesen spezialisiert haben, um keine allzu komplexe Aufgabe handelt – zumindest im Vergleich zu einem somatischen Krankenhaus: Das Funktions- sowie Raumprogramm ist überschaubar, Anzahl sowie Größe der benötigten Räume werden genannt und eine Affinitätsmatrix zeigt wichtige Raumbezüge auf. Der Leitstelle kommt eine besondere Bedeutung zu, sie muss zentral und gut sichtbar platziert werden, möglichst viel Tageslicht im Gebäudeinneren ist erwünscht – möglichst mit direktem Zugang von den Stationen ins Freie. Die Wege zwischen den Stationen und anderen Bereichen, etwa Therapiebereichen, sollen möglichst kurz sein. Was in den Ausschreibungstexten hingegen oft nicht deutlich wird, ist die gewünschte architektonische Qualität und die Atmosphäre, die durch die umgebenden Formen, Oberflächen und Materialien geschaffen werden soll. Denn: Architektur ist mehr als die Summe einzelner Räume – sie schafft Raum für menschliche Begegnungen, prägt soziale Interaktionen und beeinflusst das individuelle Wohlbefinden.
Architektur beeinflusst den Genesungsprozess
Bei der Bauaufgabe Psychiatrie geht es darum, einen Ort zu schaffen, der für Menschen in besonders verletzlichen Lebenssituationen eine schützende, orientierende und unterstützende Umgebung sein soll. Die Betroffenen brauchen Räume der Regeneration und Erholung, in denen sie durch medizinisch-therapeutische Behandlung wieder zu Kräften kommen. Auch wenn die gebaute Umwelt weniger als reines Therapeutikum zu verstehen ist, so kommt ihr doch eine entscheidende Rolle zu: Seit vielen Jahren belegen Studien, dass die gebaute Umwelt das menschliche Verhalten, das Wohlbefinden und den Genesungsprozess beeinflusst. Unter dem Begriff Evidence-Based Design (EBD) werden auf der Grundlage von Studien Gestaltungsempfehlungen für die gebaute Umwelt gegeben; häufig werden Räume, die auf der Grundlage von Studienergebnissen gestaltet wurden, daher auch als „Healing Design“ oder „Healing Architecture“ bezeichnet. Koppen und Vollmer haben zahlreiche Studien ausgewertet und als Ergebnis sieben zentrale Gestaltungsmerkmale als die „Heilenden Sieben“ formuliert:
- Orientierung
- Geruchskulisse
- Geräuschkulisse
- Privatheit und Rückzugsraum
- Power Points
- Aussicht und Weitsicht
- Menschliches Maß
Wenn in der Planung darauf geachtet wird, dass diese Merkmale für die Patienten umgesetzt werden, können Gebäude ihr Potenzial ausschöpfen und Patienten in Therapie sowie Heilung unterstützen.
Vielzahl von Gestaltungsmitteln
Konkret kann das Potenzial der Architektur durch eine Vielzahl von Gestaltungsmitteln genutzt werden. So kann gebauter Raum den Menschen auf vielfältige Weise unterstützen. Zum einen ist hier die räumliche Orientierung zu nennen: Die prägnante Gestaltung wichtiger Bereiche im Gebäude, Raumbezüge, die direkte Sichtbeziehungen ermöglichen, klare Grundrissstrukturen, visuelle und taktile Leitsysteme erleichtern die räumliche Orientierung für unterschiedliche Nutzer und damit die Navigation im Gebäude. Die zeitliche Orientierung wird durch die Schaffung von Uhren, Kalendern und Sichtbezügen nach außen gestärkt, so dass jederzeit eine Ressource zur Verfügung steht, an der sich Uhrzeit, Tages- und Jahreszeit ablesen lassen.
Aufenthaltsqualität sowie unterschiedliche Raumangebote beeinflussen die soziale Interaktion und können zwischenmenschliche Begegnungen fördern. So erhöhen Gemeinschaftsräume mit unterschiedlichen Sitzangeboten die Chance, dass für Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen etwas Passendes dabei ist. Neben den zu pflegenden Menschen kann der gebaute Raum auch die Qualität des Arbeitsplatzes positiv beeinflussen, indem die Raumfolge auf Pflegekonzepte sowie Arbeitsabläufe abgestimmt ist und somit Arbeitshandlungen bestmöglich ausgeführt werden können sowie die Kommunikation untereinander gefördert wird.
Architektur ist immer auch Ausdruck einer Haltung gegenüber den Dingen. Architektonische Konzepte spiegeln gesellschaftliche Normen wider. Dies wird am Gebäudetypus Psychiatrie deutlich: Eine qualitätsvolle und offene Architektur zeigt, wie mit dem Thema psychiatrische Erkrankungen umgegangen wird. Ein gepflegtes, attraktives Gebäude, das in der Stadt liegt und als Grundstück nach allen Seiten offen ist, trägt dazu bei, das Thema psychiatrische Versorgung in der Gesellschaft sichtbar zu machen, zu normalisieren und Vorurteile abzubauen.
Menschen und Orte haben eine Identität, die durch den gebauten Raum gestärkt werden kann. Bedürfnisse nach Rückzug, Austausch oder Ausdruck werden durch die umgebende Umwelt befriedigt: Sitznischen für das Bedürfnis nach Rückzug, Sitzplätze mit Blick in die Natur – innen oder außen – für den Wunsch nach Naturverbundenheit oder gemütliche Sitzgruppen in Gemeinschaftsräumen für das Interesse an sozialer Interaktion.
Therapeutisches Milieu und Raumparameter
Architektur und Innenarchitektur spielen eine entscheidende Rolle bei der Unterstützung des therapeutischen Milieus in psychiatrischen Einrichtungen, für das Wohlbefinden der Patienten und ihre Rückkehr in die Gesellschaft. Besonders in psychiatrischen Einrichtungen ist es wichtig, eine Umgebung zu schaffen, die Schutz bietet und das Verständnis für das fördert, was um sie herum geschieht.
Es ist wichtig zu erkennen, dass psychisch kranke Menschen stark von ihrer Umgebung beeinflusst werden und daher die milieutherapeutische Arbeit des Teams entscheidend ist. Neben der Innenarchitektur ist beispielsweise die Größe der Station von Bedeutung, da sie das Milieu und die Aufenthaltsqualität beeinflusst. Untersuchungen zur optimalen Stationsgröße sind begrenzt, jedoch finden sich Orientierungswerte in der Planungshilfe für deeskalierende psychiatrische Akutstationen, die eine maximale Anzahl von zwölf bis 18 Planbetten für Akutstationen für Erwachsene sowie acht bis elf Planbetten für Akutstationen für Kinder und Jugendliche nennt. Orientierungswerte für die Flächenangaben pro Patient liegen bei 35 bis 40 Quadratmetern Nutzungsfläche für Akutstationen für Erwachsene und 35 bis 50 Quadratmetern für Akutstationen für Kinder sowie Jugendliche.
Neben der Entscheidung über die Stationsgröße gibt es weitere zentrale räumliche Parameter, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Planungs- und Entwurfsprozess zu berücksichtigen sind (Abbildung). Je weiter die Planung voranschreitet, desto konkreter müssen die Entscheidungen getroffen werden: Ausgehend von der Frage nach allgemeinen Zielen, der gewünschten Atmosphäre und dem Pflegekonzept im Haus muss im nächsten Schritt überlegt werden, mit welchen architektonischen Mitteln die angestrebten Ziele erreicht werden können. Dabei gilt es, ein Gestaltungskonzept ganzheitlich sowie individuell für das Bauvorhaben zu entwickeln und sich nicht auf einzelne Raumparameter wie die Farbwahl einzelner Objekte oder Ausstattungsgegenstände zu beschränken.
Qualität des Arbeitsplatzes
Während in der Vergangenheit das Wohlbefinden der Patienten im Mittelpunkt von Studien stand, gewinnt in jüngster Zeit das Wohlbefinden des Personals bei Planungsentscheidungen zunehmend an Bedeutung. Gesundheitseinrichtungen müssen nun die Attraktivität ihres Arbeitsumfelds drastisch steigern, um sowohl Patienten als auch qualifizierte Fachkräfte anzuziehen. Die Gestaltung der gebauten Umwelt spielt dabei eine entscheidende Rolle, da sie die Arbeitsbedingungen in Gesundheitseinrichtungen auf mehreren Ebenen beeinflusst.
Die Anordnung der Räume beeinflusst die Arbeitsabläufe sowie die Kommunikation des Personals und trägt so zur Optimierung der Arbeitsabläufe bei. Gleichzeitig kann eine gute Raumgestaltung das Wohlbefinden steigern, indem Tageslicht und Ausblicke in die Natur gefördert sowie Lärmbelästigungen reduziert werden, was in klinischen Umgebungen besonders wichtig ist. Zudem ist es zentral, das Personal vor Gewalt sowie Aggression durch Klientinnen und Klienten zu schützen, wofür bauliche Maßnahmen auch präventiv wirken können. Ruhe- sowie Aufenthaltsräume ermöglichen dem Personal Erholungspausen und fördern den informellen Austausch, was die Effizienz sowie Zufriedenheit steigert. Eine auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden abgestimmte Gestaltung kann die Bindung an das Unternehmen stärken und die Fluktuation verringern.
Häufig ergeben sich auch Synergieeffekte mit einer patientenorientierten Gestaltung, das heißt eine Verbesserung der Arbeitsumgebung für das Personal führt in vielen Fällen auch zu einer Verbesserung der Versorgung der Patienten.
Aktuelle Entwicklungen: Architektur für Mensch und Natur
In jüngster Zeit wird immer deutlicher, dass Architektur eng mit gesellschaftlichen Entwicklungen verknüpft ist und als „systemisch“ betrachtet werden kann. Dies gilt auch für psychiatrische Einrichtungen:
- Es geht nicht nur um das Gebäude, sondern um den Dreiklang „Architektur – Innenarchitektur – Landschaftsarchitektur“: Die Besonderheiten des Ortes müssen herausgearbeitet und mit dem Gebäude zu einem Gesamtkonzept weiterentwickelt werden.
- Psychiatrische Versorgung ist nicht isoliert zu betrachten, sondern als Teil eines vernetzten Systems medizinischer Abteilungen: Zunehmend vernetzen sich die Fachdisziplinen wie die Psychoonkologie oder die Psychokardiologie.
- Die Digitalisierung und neue rechtliche Rahmenbedingungen ermöglichen durch Telemedizin, Home Treatment und stationsäquivalente Behandlungen neue Wege, wodurch die Grenzen zwischen stationärer sowie ambulanter Versorgung durchlässiger werden. Dies führt zu einem veränderten Raumbedarf in stationären Einrichtungen.
- Themen der baulichen Nachhaltigkeit rücken zunehmend in den Fokus und werden entwurfsprägend. Immer häufiger entstehen Entwürfe für Gebäude, die aus nachwachsenden Rohstoffen gebaut und mit erneuerbaren Energien betrieben werden sollen. Psychiatrische Kliniken können im Krankenhausbau Vorreiter für den Holzbau im Gesundheitswesen sein. Zahlreiche Projekte sind bereits in Planung, beispielsweise die KRH-Psychiatrie in oder das Zentrum für Psychische Gesundheit am Klinikum Ingolstadt.
Der Dreiklang von „Architektur – Innenarchitektur – Landschaftsarchitektur“ wird nun durch das Thema Nachhaltigkeit ergänzt. Im Zentrum steht immer der Mensch mit seinen individuellen Bedürfnissen, dem der gebaute Raum Schutz, Geborgenheit, Privatsphäre und Orientierung bieten soll.
Literatur bei der Verfasserin und dem Verfasser.
Serie: Bauen in der Psychiatrie
Die Architektur, Anordnung oder Ausgestaltung der Gebäude, Räumlichkeiten und Außenbereiche kann in der therapeutischen Umgebung den Heilungsprozess unterstützen. Mehr dazu in der Serie "Bauen in der Psychiatrie".
Weitere Psychserien im Überblick
- MD-QK-RL in der Praxis
- Stationsäquivalente Behandlung
- Internationale Transformation
- Psych-Budget-Update 2024
- Businessporträts
- Ausbildung in der Psychotherapie
- Maßregelvollzug
- Bürokratieabbau





