Gesundheitsökonom Boris Augurzky fordert die Abschaffung des Pflegebudgets. Im Interview spricht er über den Produktivitätsverlust in der Pflege – und wie sich die Effektivität in einem gedeckelten Finanzierungssystem hochhalten lässt.
Herr Augurzky, der Rating Report zeigt deutlich, dass die Fallzahlen seit 2019 zurückgegangen sind, das Personal in Kliniken aber mehr geworden ist. Die Produktivität der Krankenhäuser ist gesunken, schlussfolgern Sie. Wie funktioniert so ein Absinken der Produktivität – haben die Leute jetzt einfach weniger zu tun?
Das ist das große Rätsel: Weniger stationäre Fälle als 2019 und gleichzeitig scheint die Arbeitsbelastung der Beschäftigten gestiegen zu sein. Dies ist nicht nur im Gesundheitswesen zu beobachten. Auch in der gesamten Volkswirtschaft stagniert die Produktivität.
Ich kann über die Gründe nur spekulieren. Was ich beobachte, ist Folgendes: Die regulatorischen Vorgaben haben zugenommen, zum Beispiel Personaluntergrenzen. Sie führen dazu, dass ich mehr Personal für die gleiche Arbeit benötige. Damit zusammen hängt eine Zunahme an Bürokratie, die Arbeitszeit verschlingt. Dies ist auch in der Gesamtwirtschaft passiert. Die Politik unterschätzt diesen Effekt, wenn sie neue Gesetze erlässt. Schon wenn ein Prozent der Arbeitszeit für zusätzliche Bürokratie eingesetzt werden muss, sinkt die Produktivität entsprechend.
Zu beobachten sind zudem mehr Krankheitstage als früher. Auch die Zunahme an Teilzeittätigkeit kann ein Grund sein. Denn zwei halbe Stellen sind doch etwas weniger als eine Vollzeitstelle. Schließlich hat sich der Arbeitsmarkt zu einem Arbeitnehmermarkt entwickelt.
Dies hat zur Folge, dass Arbeitnehmer bei Belastungen schneller ein Veto einlegen. Sollte ihre echte oder gefühlte Belastung zu hoch sein, können sie jederzeit den Arbeitgeber wechseln. So können der Nachwuchs sowie erfahrenere Arbeitskräfte höhere Forderungen an die persönliche „Work-Life-Balance“ stellen.
All diese Faktoren können die Leistungsmenge verringern. Wir müssen aber unbedingt die Produktivität hochfahren, wenn wir Rationierung im Gesundheitswesen vermeiden wollen. Dazu wiederum sind unter anderem effiziente Angebotsstrukturen nötig.
Sie fordern ein Ende des Pflegebudgets, warum?
Bereits im Jahr 2018 habe ich darauf hingewiesen, dass das Pflegebudget ein Irrweg ist – wie übrigens alle Selbstkostendeckungssysteme. Wenn wir als Gesellschaft Kosten statt Ergebnisse erstatten, bekommen wir Kosten in schier unerschöpflicher Menge, aber keine Garantie auf gute Ergebnisse.
Vor diesen Folgen des Pflegebudgets warnte ich seinerzeit: Verlagerung von Personal vom Funktionsdienst in den Pflegedienst, Zurückverlagerung von Hilfstätigkeiten in die Pflege, keine arbeitssparenden Prozessinnovationen mehr in der Pflege, ungebremstes Lohnwachstum, massiver Wettbewerb um Pflegekräfte, Abzug von Pflegekräften aus der Altenpflege.
All diese Folgen sind eingetreten. Das Pflegebudget ist seit 2020 mit 10 Prozent pro Jahr gestiegen, zuletzt sogar um 13 Prozent. Dagegen verschlechterte sich die Lage der Krankenkassen, die Milliardendefizite einfuhren. Hier läuft also etwas dramatisch schief, weil bei Selbstkostendeckung niemand mehr ein Interesse daran hat, die Kosten einzudämmen. Statt die Kreativität der Menschen darauf zu fokussieren, Prozesse effizient zu organisieren, wird sie nun verwendet, um Wege zu finden, Kosten in das Pflegebudget zu verlagern.
Die Kosten fürs Pflegepersonal sind von 14,6 Milliarden im Jahr 2020 auf 22 Milliarden Euro 2023 gestiegen. Sind diese Ausgaben für die Pflege zu hoch?
Das kann niemand sagen, weil niemand allwissend ist. Nur über das freie Spiel von Angebot und Nachfrage, das heißt über zahllose dezentrale Entscheidungen im Kleinen, kann sich ein Optimum einstellen. Das ist der unschlagbare Vorteil von Märkten. Eine Planwirtschaft leidet unter der Hybris, das Optimum zu kennen, und scheitert damit regelmäßig an der Realität. Da wir im Gesundheitswesen jedoch keinen freien Markt haben können, bleibt diese Frage offen im Raum stehen.
Daraus folgt übrigens, dass es gut wäre, wir versuchten zumindest, marktähnliche Bedingungen zu schaffen. Dazu müssten wir stärker die Versorgungsergebnisse vergüten. Die Anbieter würden dann – jeder für sich und lokal unterschiedlich – schauen, welchen Personal- und Materialeinsatz sie benötigten, um gute Ergebnisse und damit eine für sie gute Vergütung zu erzielen. Vielleicht zeigte sich sogar, dass wir noch mehr Pflege und weniger Ärzte bräuchten, wenn wir akademisierte Pflegefachpersonen einsetzten und der Pflege mehr Verantwortung übertrügen. Vielleicht würden wir auch viel stärker auf Prävention bei den Volkskrankheiten setzen, damit wir weniger Kranke versorgen müssten und Gesundheitspersonal und damit auch Pflege einsparen könnten.
Zurück zu Ihrer Frage: Mir geht es nicht darum, die 22 Milliarden Euro des Pflegebudgets wieder herunterzufahren, sondern vielmehr darum, ein ökonomisch instabiles Selbstkostendeckungsprinzip, das wie ein ungedeckter Scheck zu Lasten der Beitragszahler ist, zu beenden. Die Pflege selbst und vor allem ihre Kompetenzen würde ich dagegen stärken. Das geht aber nur bei voller Budgetverantwortung und nicht bei „Unverantwortung“.
Sie beraten auch Krankenhäuser vor Ort. Wie lässt sich die Umverteilung der Pflegekräfte auf weniger Häuser mit äußerst geringem Streuverlust managen. Gibt es dafür ein Rezept?
Das ist eine der großen Herausforderungen bei der Zentralisierung einer Krankenhausstruktur. Pflegekräfte sind lokal stärker verankert als Ärzte. Wenn sich der Ort ihres Arbeitsplatzes ändert, schauen sich manche nach einer lokalen Alternative um. In Ballungsgebieten ist dies – zumindest aus trägerübergreifender Sicht – kein Problem. Eine Pflegekraft wechselt dann „nur“ von einem Krankenhaus zu einem anderen und bleibt dem System erhalten.
Anders kann es auf dem Land aussehen, wenn eine Pflegekraft in eine andere Branche wechselt oder sich vielleicht sogar ganz aus dem Arbeitsmarkt zurückzieht. Dann ist dies für das Gesundheitssystem ein herber Verlust – außer sie wechselt in die Altenpflege, die auch händeringend Pflegekräfte sucht.
Aus Trägersicht ist es zunächst einmal wichtig, vorab zu prüfen, für welche Pflegekräfte sich die Anfahrtszeit zum neuen Arbeitsplatz nennenswert verändern würde. Dann gilt es, attraktive Angebote zu unterbreiten, um diese zu halten. Auch sollte der Neubau des Zentralklinikums für die Beschäftigten attraktiv gestaltet werden, sodass sie sich darauf freuen, dort tätig zu werden. Und schließlich gibt es nicht nur einen „Streuverlust“, also Pflegekräfte, die nicht mitkommen, sondern es gibt auch mehr Bewerbungen für einen topmodernen Neubau.
Kurz: Bei einem konkreten Zentralisierungsvorhaben muss man sich nicht nur anschauen, wie sich dadurch die Patientenströme, sondern auch wie sich die Mitarbeiterströme ändern könnten.