Kennen Sie eigentlich AdAM? Dahinter verbirgt sich ein hochinteressantes, vom Innovationsausschuss des Gemeinsamen Bundesausschusses gefördertes Modellprojekt in Nordrhein-Westfalen für mehr Sicherheit bei der Medikamenteneinnahme. Patienten, die eine Medikation mit fünf oder mehr Wirkstoffen über wenigstens zwei Quartale hinweg erhalten, werden dabei von ihren Hausärzten digital durch eine speziell entwickelte Software unterstützt. Dadurch sollen gefährliche Neben- und Wechselwirkungen in der Medikation erkannt und verhindert werden. Konkret wurden Ärzten mit Einverständnis der Patienten alle Routinedaten der beteiligten Krankenkasse zur Verfügung gestellt und automatisch auf mögliche Wechselwirkungen von verschriebenen Wirkstoffen hingewiesen.
Das Ergebnis des 2018 gestarteten und im Oktober 2022 abgeschlossenen Modellprojekts: Durch AdAM kann die durch Neben- und Wechselwirkungen bedingte Sterblichkeit von Polypharmazie-Patienten um zehn bis 20 Prozent gesenkt werden. Bei flächendeckender Anwendung könnten jährlich 65.000 bis 70.000 Todesfälle bundesweit vermieden werden.
Wer es einmal mit der entsprechenden Patientengruppe vor allem älterer Menschen zu tun hatte, den dürfte das nicht wundern. Die Arzneimitteltherapie ist derart komplex, dass es schwerfällt, den Überblick über mögliche Medikationsrisiken zu behalten. Auch für die Aufnahme von Notfällen in Krankenhäusern würde diese Form der Datennutzung wichtige Vorteile bringen. Das fehlende Wissen über die aktuelle Medikation birgt große Risiken, auch lebensgefährliche Risiken.
Erkenntnisse wie aus der AdAM-Studie lassen mich häufig zwiespältig zurück. Zum einen überaus positiv gestimmt, weil auch durch solche zeitlich und lokal eng eingegrenzten Pilotprojekte die enormen Potenziale einer digitalisierten Medizin sichtbar werden. Zum anderen frustriert, weil ich weiß und täglich erlebe, dass ein überbordender Datenschutz genau diese Orientierung am Patientenwohl nicht selten verhindert. Natürlich ist der Datenschutz wichtig, aber seine Rolle wird in Deutschland seit Jahrzehnen fehl- und überinterpretiert. Wir brauchen eine Rückbesinnung auf seine originären Aufgaben: eben Daten zu schützen und Missbrauch zu verhindern, aber nicht den Fortschritt aufzuhalten und Heilungschancen zu gefährden.
Fragt man sich nach den Gründen für diese eingetretene und in vielen Köpfen zementierte Fehlentwicklung, sollte man sich auch vergegenwärtigen, dass sich die Interessenlagen der Personen, die die Regeln und Gesetze vorgeben, von denen der Kranken fundamental unterscheiden. Geht es den der ersten Gruppe Zugehörigen vielfach um die strenge Befolgung von Gesetzen mit all den entsprechenden Ausführungen, geht es der zweiten Gruppe nicht selten ums eigene Leben. Ähnlichkeiten mit der unzureichenden Gesetzeslage zur Organspende sind nicht von der Hand zu weisen.
Weiterhin ärgert mich, dass Datenschutz immer wieder fast ausschließlich mit der Digitalisierung verbunden wird. Meine Erfahrung aus 40 Jahren als Arzt und Manager ist eine andere: Noch nie waren die Daten der Patienten so sicher wie heute. In der Vergangenheit lagen Akten, Papiere und Befunde häufig achtlos und für viele zugänglich herum, wurden gesucht und manchmal auch nicht mehr gefunden, auch schon mal mit dem Taxi von A nach B gefahren.
Heute gibt es in den Krankenhausinformationssystemen der Kliniken genau geregelte Zugriffsrechte, die dafür sorgen, dass Daten tatsächlich nur denen zugänglich sind, die sie für die Behandlung der Patienten brauchen. Dieser Mehrwert, der rasche Zugriff auf die Daten, hilft Leben retten. Natürlich gibt es die Gefahr von krimineller Energie und Hackerangriffen. Dieses unvermeidliche Restrisiko darf aber keinesfalls dazu führen, Patienten ihre Behandlungen und damit Heilungschancen vorzuenthalten. Patienten haben ein Recht auf die Nutzung ihrer Daten. Und sie haben ein Recht darauf, dass diese Daten – auch durch den Austausch zwischen den Akteuren und Leistungserbringern – für ihre Gesundheit eingesetzt werden.
Die digitale Medizin von morgen kann nicht mit dem Datenschutz von gestern bewältigt werden – er bedarf eines grundlegenden Wandels. Der Datenschutz der Zukunft muss es erlauben, aus medizinischen Daten zu lernen, zielgerichtet Daten zu erheben und sie ohne Reibungsverluste für die Behandlung von Patienten einzusetzen. Dafür brauchen wir auch die gesellschaftliche Akzeptanz. Datenschutz muss die Belange der Kranken viel stärker berücksichtigen. Der Schutz von Menschenleben muss immer vor dem Schutz der Daten stehen.
Hinzu kommt: Vielen Akteuren des Gesundheitssystems mangelt es noch an Verständnis dafür, welchen Nutzen Daten nicht nur für die Gesundung von Menschen, sondern auch für eine bessere Effizienz im System besitzen. Zentrale Herausforderungen, vom Personalmangel in den Krankenhäusern bis hin zur Finanzsituation im Gesundheitssystem, würden durch eine bessere Datenbasis, reibungslosen Austausch und mehr Digitalisierung signifikant positiv beeinflusst. Insofern brauchen wir nicht nur die von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) angestoßene Reform der Krankenhauslandschaft: Wir brauchen erst recht eine grundlegendende Modernisierung des Datenschutzes für eine zukunfts- und leistungsfähige Gesundheitsversorgung.