Verbesserte Medikationsprozesse sichern im Inselspital Bern eine optimale Behandlungsqualität

Ohne Risiken und Nebenwirkungen

  • f&w
  • Kooperation in der Praxis
  • 01.06.2008

Medikationsfehler und unerwünschte Arzneimittelwirkungen sind in den westlichen Industrienationen eine der häufigsten Todesursachen. Für mehr Sicherheit im Medikationsprozess sorgt eine neue Software, die von der orthopädischen Abteilung des Inselspitals Bern (Schweiz) gemeinsam mit der Meierhofer Schweiz AG (ehemals Qualidoc AG) entwickelt wurde. Damit ist nun eine intelligente Sicherheitskontrolle für eine höhere Qualität der medizinischen Behandlung verfügbar. Die Software trägt zudem entscheidend dazu bei, die Arbeit des medizinischen Fachpersonals zu erleichtern und gleichzeitig die Prozesse so zu optimieren, dass Kosten minimiert werden.

Krankmacher Nummer 1: Fehlindikationen

In den USA verursachen Medikationsfehler und unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) mehr Todesopfer als beispielsweise Verkehrsunfälle, Aids oder Brustkrebs. Als Todesursache bei Krankenhauspatienten belegen UAW sogar Platz vier – noch vor Volkskrankheiten wie Diabetes. In Deutschland leiden fünf Prozent aller Patienten unter den Folgen fehlerhafter Arzneimittelverordnungen. Verschiedene wissenschaftliche Studien kommen zu dem Ergebnis, dass 40 Prozent der UAW vermeidbar sind. Eine Erhebung am Universitätsklinikum Zürich zeichnet ein ähnliches Bild. Demnach treten beielf Prozent aller stationären Patienten während ihres Aufenthalts in Schweizer Krankenhäusern klinisch relevante UAW auf. Die Zahlen zeigen, dass die Verordnung von Arzneimitteln ein hochriskanter und oft unterschätzter Prozess ist.

Inselspital Bern startete 2005 ein Pilotprojekt

Um Fehlermedikationen zu vermeiden, wurde 2005 das Projekt „eMed", eine elektronische Arzneimittelverordnung, im Inselspital Bern gestartet. Dazu fand sich eine interdisziplinäre Expertengruppe – Ärzte, Pflegekräfte, Apotheker und Informatiker – zusammen, mit dem Ziel, ein Instrument zu entwickeln, welches das Krankenhauspersonal bei seiner alltäglichen Arbeit unterstützt.
In einem ersten Schritt wertete das Team der Orthopädischen Abteilung die Verordnungsvorgänge von insgesamt 165 Patienten aus. Dabei zeigte sich: Die größte Fehlerquelle ist die Handschrift des Arztes. In 42 Prozent der Fälle war sie kaum, in 15 Prozent überhaupt nicht lesbar. Der Vergleich der ärztlichen Verordnung mit den Akteneinträgen für die Bestellungen zeigte in fünf Prozent der Fälle erhebliche Abweichungen. Die Inzidenz von Dokumentationsfehlern betrug dabei 43 Prozent, jene von Übertragungsfehlern vom Verordnungsblatt zum Kardexeintrag noch einmal 25 Prozent. Bei mehr als der Hälfte der Patienten konnten so mittlere und schwere Interaktionen von Medikamenten aufgedeckt werden.
Anhand der Bestandsaufnahme ermittelte die Projektgruppe Kennzahlen, welche die Software künftig berücksichtigen sollte. Als Anforderungen wurden in die Spezifikation aufgenommen:

;Größtmögliche Vermeidung handschriftlicher Verordnungen
- Gewährleistung medienbruchfreier Datentransfers zwischen Arzt, Pflege und Apotheke
- Visualisierung von Interaktionen, Dosierungsfehlern und Kontraindikationen
- Einbindung von Arzneimittelbrevier und -kompendium als Informationsdatenbank, um dem Personal den schnellen Zugriff auf alle Medikamente und Wirkstoffe zu ermöglichen.

Acht Monate später stand die Lösung. In Zusammenarbeit mit der Meierhofer Schweiz AG begann der Pilotversuch der elektronisch kontrollierten Medikamentenverordnung. Das Kernelement der ärztlichen Verordnung bildete eine sogenannte Schnellverordnungsmaske. Diese auf Abteilungsebene konfigurierbare Ansicht erlaubt es dem Arzt, die am häufigsten verordneten Medikamente aus einer „Hitliste" auszuwählen. Die Medikamente sind thematisch und dosisadaptiert als Standardverordnung vorgegeben. Ärzte profitieren von der übersichtlichen Gliederung, welche die schnelle und zielgerichtete Verschreibung erleichtert.

Als weiteres Kernstück etablierte sich das sogenannte Medikamenten-Cockpit. Ähnlich den Instrumenten im Flugzeug, die sämtliche Parameter der Maschine überwachen und so das sichere Fliegen garantieren, wird der Arzt über Interaktionen, Richtigkeit der Dosierung, schwerwiegende Nebenwirkungen sowie Kontraindikationen informiert und mit Inhalten aus Brevier und Kompendium versorgt.

Umsetzung und Resonanz: Der Weg in die Praxis

Die erste Phase des Pilotprojektes erreichte mit Testinstallationen auf zwei Desktops und vier Laptops eine Abteilung mit rund 20 Betten. Um eine ausreichende Mobilität für Pflege- und Ärzteschaft zu gewährleisten, erfolgte außerdem die Installation von Wireless LAN. In Einzelschulungen erfuhren die Anwender alles Wissenswerte zum Start des Softwarepiloten. Der zeitliche Aufwand dafür umfasste nicht mehr als 30 Minuten pro Person. Das Projektteam begleitete die gesamte Einführungsphase und stand dem Krankenhauspersonal rund um die Uhr zur Seite.
Die elektronische Verordnung hat die Fehlerrate beim Lesen und die Inzidenz der Übertragungsfehler nahezu auf null reduziert. 

Die neue Schnellverordnungsmaske entwickelte sich erwartungsgemäßfür die meisten Standardverordnungen zur Haupteingabemaske. Während der drei Testmonate wurden insgesamt 4.662 Datensätze für weitere wissenschaftliche Untersuchungen analysiert. Den 214 Patienten aus diesem Zeitraum wurden insgesamt 4014 Medikamente (wirkstoffhaltige Arzneimittel, Infusionen, Blutprodukte, Salben und homöopathische Heilmittel) neu verordnet. Im Durchschnitt erhielt ein Patient demnach 19 Neuverordnungen pro Hospitalisation. Im Verlauf wurden 650 (16 Prozent) dieser Verordnungen modifiziert und 1.530 (38 Prozent) wieder gestoppt. Insgesamt waren 1.472 neu verordnete Arzneimittel an potenziellen Interaktionen beteiligt.

Nach Schweregraden unterteilt, fanden sich 296 leichte, 421 mittelschwere und 19 schwerwiegende potenzielle Wechselwirkungen. Dementsprechend wurde der verordnende Arzt bei 15 Prozent der Neuverordnungen über leichte, bei 21 Prozent über mittelschwere und bei mehr als einem Prozent sogar über schwerwiegende mögliche Interaktionen informiert. Schon in der Pilotphase verhinderte der Dosischeck insgesamt 15 Überdosierungen noch während des Verordnungsprozesses.
Bereits zu Beginn der Testphase gaben sowohl Ärzte als auch Pflegepersonal an, zunächst mehr Zeit für die täglichen Verordnungen sowie für die pflegerische Medikationsdokumentation zu benötigen. Das Sicherheitsgefühl bei den Verordnungen wurde jedoch durch die einwandfreie Lesbarkeit deutlich erhöht.
Eine zweite Befragung am Ende des Pilotversuchs ergab eine markante Steigerung der Anwender-Akzeptanz. Die Mehrheit der Beteiligten gab an, durch den Einsatz der Software sogar Arbeitszeit einzusparen. Zudem erleichterte das Tool die elektronische Dokumentation des Medikamentenverbrauchs und lieferte der Abrechnungsstelle oder der Apotheke sofort die Daten zur Nachbestellung oder Verwaltung.

Flächendeckende Implementierung von „eMed"

Das Pilotprojekt „eMed" war ein voller Erfolg. Die flächendeckende Einführung der elektronisch kontrollierten Medikamentenverordnung im Inselspital Bern war die logische Konsequenz.
In der zweiten, noch nicht abgeschlossenen Projektphase wurde „eMedX", das auf der Medica 2008 vorgestellt wird, zu einem multifunktionalen webbasierten Verordnungstool ausgebaut, das mit zahlreichen neuen Funktionen ausgestattet wurde:
- Allergiecheck
- Ausbau von Expertensystemen
- Medikationsvorschläge
- Alternative Medikationsvorschläge
- Elektronisches Rezept.

Die benutzerfreundliche Webapplikation erlaubt die Integration in das bestehende Krankenhaus-Informationssystem. Auch niedergelassene Ärzte und Apotheker können so sämtliche Funktionen von „eMedX" nutzen. Damit kontrolliert das System alle Verordnungen während der gesamten Behandlungszeit eines Patienten und minimiert mögliche Medikationsfehler deutlich.
Am Inselspital Bern wird das Produkt kontinuierlich an die hausinternen Bedürfnisse angepasst und weiterentwickelt. Darüber hinaus unterstützt der Entwicklungspartner aus der Industrie den Entwicklungsprozess aktiv. Die Meierhofer Unternehmensgruppe evaluiert die Bedürfnisse in deutschen und österreichischen Einrichtungen des Gesundheitswesens und setzt diese Ergebnisse in der Produkt-Roadmap von „eMedX" um.

Die Software erhält weitere Funktionen

Zusätzlich liefert das Unternehmen das technologische Know-how für die Erweiterung der Applikation, die Umsetzung als Webservice und die Definition des Integrationsszenarios. In einem nächsten Schritt wird die klinische Entscheidungshilfe „eMedX" weiter ausgebaut. Um eine verbesserte Patienten- und Medikationssicherheit zu gewährleisten, werden folgende Funktionen implementiert:

;Dosisanpassung bei Niereninsuffizienz
- Erstellen einer Allergie-Datenbank
- Erstellen einer Pädiatrie-Datenbank 
- Erstellen einer Datenbank über UAW und Meldeinformation
- diagnoseorientierte (ICD-10) Verordnungsmöglichkeit.

Diese Funktionen sollen künftig auch in der Webversion zur Verfügung stehen. Neben dem für die Schweiz definierten Projekt am Inselspital Bern wird Meierhofer das Produkt auch für den deutschen und österreichischen Markt adaptieren. Fehler im Medikationsprozess und UAW führen zu erhöhten Kosten: Längere Krankenhausaufenthalte und die Versorgung chronischer Gesundheitsschäden belasten das Gesundheitssystem zunehmend und können durch den Einsatz von „eMedX" reduziert oder auch gänzlich vermieden werden.

Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Hendrik Kohlhof
Inselspital Bern
Klinik und Poliklinik für Orthopädie
3010 Bern

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