Eine aktuelle Auswertung des Klinik-Stresstests der Bibliomed-Redaktion zeigt lange Fahrtzeiten zu Herzkatheterlaboren in Teilen Ostdeutschlands. Ist die Sterblichkeit dort deshalb höher? Erfordert dies eine neue Debatte über Sicherstellungszuschläge?
Ganz Deutschland ist gut versorgt. Ganz Deutschland? Vielleicht nicht ganz. Zumindest nicht in jeder Beziehung. Zwar erreicht jeder Bundesbürger innerhalb von 30 Minuten ein Krankenhaus, wie das neue Krankenhaus-Tool Bibliomed-Klinik-Stresstest zeigt. Wer das prüfen will, geht auf www.bibliomedmanager.de/klinik-stresstest und wählt den Reiter „Erreichbarkeit nach Erkrankung“. Die zugehörige Karte zeigt: Von jedem Postleitzahlen-Mittelpunkt in Deutschland lässt sich innerhalb von 30 Minuten ein Krankenhaus erreichen. Das dürfte es so nicht oft auf der Welt geben. Viele Vertreter der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sehen sogar eine Überversorgung, wenn Krankenhäuser etwa in Teilen Nordrhein-Westfalens „in Rollatorentfernung“ zu finden seien.
Die 30-Minuten-Grenze ist dabei nicht fix, sondern variabel. Wer die Maximalfahrtzeit auf beispielsweise zehn Minuten reduziert, sieht, dass sich weite Teile Deutschlands orange färben. Dort ist die Fahrtzeit also länger als zehn Minuten. Je nach Indikation sind unterschiedliche Fahrtzeiten medizinisch sinnvoll.
Wer im rechten Auswahlfeld des Bibliomed-Klinik-Stresstests die Erkrankung „Herzinfarkt“ anklickt, sieht zunächst keinen nennenswerten Unterschied, was die Versorgungslage angeht (bei einer Maximalfahrtzeit von 30 Minuten). Wer dagegen „Lungentumore“ auswählt, sieht, dass Patienten mitunter längere Fahrtzeiten in Kauf nehmen müssen – erst recht, wenn gewisse Mindestmengen unterstellt werden, die sich etwas weiter unten in dem Klinik-Explorer separat einstellen lassen. „Es ist aber medizinisch und ökonomisch durchaus vertretbar, bei Lungentumoren etwas längere Fahrtzeiten in Kauf zu nehmen, schließlich ist hier nicht eine Behandlung in kürzester Zeit nötig. Wichtiger ist stattdessen gerade bei operativen Eingriffen eine große Expertise des behandelnden Arztes und seines Teams“, erklärt der approbierte Mediziner und MEDIQON-Geschäftsführer Dirk Elmhorst, der als Partner des Bibliomed-Verlags die Karte erstellt hat. „Außerdem ist wichtig, welche strukturellen Voraussetzungen ein Haus erfüllt.“
Wenn jede Minute zählt
Strukturelle Voraussetzungen – genau hier will das neue Online-Tool für Krankenhäuser ansetzen. Denn Deutschland ist keineswegs flächendeckend so gut versorgt, wie es auf den ersten Blick scheint. Deshalb wurde der Klinik-Stresstest um einen Reiter erweitert. Wählt man den Punkt „Behandlungen“, lässt sich untersuchen, wie sich die Versorgungslage mit Herzkatheter-laboren darstellt. Auf Anfrage von BibliomedManager erklärt der Kardiologe und ehemalige Chefarzt des Krankenhauses in Wuppertal, Prof. Dr. Hartmut Gülker: „Der akute Herzinfarkt ist immer eine unmittelbar lebensbedrohende Erkrankung, die sofort und vor Ort behandelt werden muss. Wichtig ist, dass rund um die Uhr ein Facharzt-Team mit einem Herzkatheterlabor zur Verfügung steht, das über das entsprechende Know-how verfügt.“ Entscheidend für das Überleben und den möglichen Gesamtschaden sei eine möglichst geringe Zeitdauer vom Beginn des Verschlusses eines Herzkranzgefäßes (dem Beginn der Symptome) bis zur Wiedereröffnung des Gefäßes und damit der Wiederdurchblutung. „Es muss immer versucht werden, die Zeit bis zur Wiedereröffnung so kurz wie möglich zu halten“, mahnt Gülker.
Doch in Teilen Ostdeutschlands könnte die Entfernung zu lang sein. Der GKV-Spitzenverband geht davon aus, dass ein Grundversorger – bestehend aus Innerer Medizin und Allgemeinchirurgie – innerhalb von 30 Minuten erreichbar sein solle. „Diese Zeitspanne sollte selbstverständlich auch nicht bei Herzinfarktpatienten überschritten werden“, schlussfolgert Elmhorst. Im Klinik-Explorer auf BibliomedManager.de lassen sich die Fahrtzeiten auf Postleitzahlen-Ebene bis zum nächsten Herzkatheterlabor untersuchen.
„Als Basis haben wir Krankenhäuser gewählt, die mit den Krankenkassen eine Perkutane Coronare Angioplastie (PTCA) abgerechnet haben“, sagt Elmhorst. Nur wer dieses Verfahren zur Erweiterung verengter Herzkranzgefäße abrechnet, kann theoretisch über ein Herzkatheterlabor verfügen. Datenbasis für die Analyse sind die Qualitätsberichte der Krankenhäuser 2014. Diese weisen allerdings keine eindeutigen Daten über die Ausstattung der einzelnen Krankenhäuser mit Herzkatheterlaboren aus. „Wir gehen davon aus, dass eine Mindestanzahl solcher Eingriffe ausgewiesen werden muss, um sicherzugehen, dass ein Haus über ein eigenes Herzkatheterlabor verfügt“, sagt Elmhorst. Häuser mit weniger Eingriffen könnten auch im Rahmen von Kooperationen mit anderen Kliniken entsprechende Abrechnungen durchführen.
Fügt man die drei Filter – PTCA, Fahrtzeit von nicht mehr als 30 Minuten und beispielsweise mindestens 50 Eingriffe – in dem Tool zusammen, zeigt sich: In Teilen Brandenburgs, Mecklenburg-Vorpommerns, Sachsen-Anhalts, Sachsens und Teilen Niederbayerns ergibt sich eine längere Mindestfahrtzeit als 30 Minuten zum nächsten Krankenhaus mit einem Herzkatheterlabor.
Bedeutung des regionalen Angebots
Sterben Ostdeutsche deshalb mit einer höheren Wahrscheinlichkeit an einem Herzinfarkt? Fakt ist: Laut den Daten der Deutschen Herzstiftung, die Anfang des Jahres in den Medien für Aufregung sorgten, sterben in Ostdeutschland mehr Menschen an einem Herzinfarkt als in Westdeutschland. Pro 100.000 Einwohner waren dies im Jahr 2013 in Mecklenburg-Vorpommern 77, in Sachsen-Anhalt 99, in Brandenburg 98, in Sachsen 93 und in Thüringen 81. Zum Vergleich: In Baden-Württemberg waren es lediglich 57 und in Bayern 60. Sicher, das mag nicht nur an der Versorgung mit Herzkatheterlaboren liegen. Statistisch leben Menschen in strukturschwachen Gebieten ungesünder. Sie trinken mehr Alkohol, rauchen häufiger und haben verstärkt Übergewicht. Risikofaktoren wie Bluthochdruck und Diabetes sind die Folge.
Aber die Versorgung könnte auch eine Rolle spielen. Bereits zum Herzbericht 2014 sagte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) und Direktor der medizinischen Klinik I/Kardiologie am Uniklinikum Gießen-Marburg, Prof. Dr. Christian Hamm, dass die Differenzen zwar nicht allein, aber eben auch auf das „jeweilige regionale Angebot an diagnostischen oder therapeutischen Möglichkeiten“ zurückzuführen sein könnten. Heißt das, ein gezielter Ausbau mit Herzkatheterlaboren ist nötig? Oder müssen in bestimmten Gebieten Sicherstellungszuschläge bezahlt werden, damit das jeweilige Krankenhaus etwa ein Herzkatheterlabor finanzieren kann, selbst wenn es zu wenige Fälle gibt, um dieses wirtschaftlich zu betreiben?
Der GKV-Spitzenverband widerspricht auf Anfrage: „Sicherstellungszuschläge sind dann notwendig, wenn sich ein Krankenhaus in einer ökonomischen Schieflage befindet und es für die Versorgung benötigt wird“, erklärt Sprecher Florian Lanz auf Anfrage. „Neben einer guten Erstversorgung brauchen wir beispielsweise bei der Versorgung von Herzinfarkten mehr Konzentration, damit ein akuter Infarkt seltener von mit dieser Erkrankung wenig erfahrenen Ärzten behandelt wird. Die Entfernung ist ein zentrales, aber kein alleinentscheidendes Kriterium.“
Vielleicht zeigt sich in dieser Aussage ein Grundkonflikt. Der GKV-Spitzenverband hält die Anzahl der Krankenhäuser in Deutschland für zu hoch und will die Landschaft deshalb ausdünnen. Für die politische Debatte beschränkt er sich auf die Definition eines Grundversorgers, also eines Hauses, das über eine Allgemeinchirurgie und eine Innere Medizin verfügt. Die andere Ebene betrifft die tatsächliche Fähigkeit der Krankenhäuser vor Ort, die Patienten adäquat zu behandeln. Hier hinkt die Debatte hinterher. Die Bibliomed-Redaktion wird die indikationsspezifische Versorgungslandschaft künftig detailliert analysieren.