Mindestmengen bei Krebs

Längere Fahrtzeiten sind verkraftbar

  • Qualitätsmanagement
  • Titel
  • 02.01.2018

f&w

Ausgabe 1/2018

Seite 18

Der Bibliomed-Klinik-Stresstest zeigt: Mindestmengen in der Krebschirurgie führen zwar teilweise zu längeren Fahrtzeiten, diese scheinen aber weitestgehend vertretbar. Die Krankenkassen planen schon bald Vorstöße für höhere Mengen und weitere Krebsarten. 

Zunächst die schlechte Nachricht, es trifft wieder mal den Osten Deutschlands: Würden die Mindestmengen verbindlich, die Prof. Dr. Thomas Mansky von der TU Berlin in der Krebschirurgie ermittelt hat, müssten die Bewohner im brandenburgischen Prignitz künftig mehr als 30 Minuten bis zur nächsten Klinik fahren, die eine entsprechende Darmoperation anbietet. Derzeit sind es weniger als 15 Minuten. Das zeigt der neue Klinik-Stresstest auf dem Portal BibliomedManager.de, den der Bibliomed-Partner Mediqon exklusiv für das Portal erstellt hat (www.bibliomedmanager.de/stresstest).

Vor allem im Osten Deutschlands würden die Mindestmengen, die ein Krankenhaus laut Manskys Vorstellung erreichen muss, zu deutlich längeren Fahrtzeiten führen. Teile Brandenburgs, Sachsen-Anhalts und Mecklenburg-Vorpommerns sowie die Eifel und der Bayerische Wald wären unter Erreichbarkeitsgesichtspunkten die Verlierer der von Mansky vorgeschlagenen Mindestmengen bei Darmkrebs-Operationen – weitere Fusionen und die mögliche Zusammenlegung von Abteilungen nicht berücksichtigt (Abbildung).

Länger fahren, länger leben

Den längeren Fahrtzeiten steht allerdings eine erheblich geringere Mortalität gegenüber. Anlässlich der Präsentation des Qualitätsmonitors 2018 des wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO), der Initiative Qualitätsmedizin (IQM) und der Gesundheitsstadt Berlin Ende November argumentierte Mansky, dass strikte Mindestmengen zu weniger Toten führen. Eine Mindestmenge von 82 Operationen bei Darmkrebs würde demzufolge zu 280 Todesfällen weniger im Jahr führen. Mansky präsentierte Daten zu einem möglichen Rückgang der Sterbefälle in den Jahren 2009 bis 2014 bei verschiedenen Krebsarten:

  • Darmkrebs: 280 Todesfälle weniger bei einer Mindestmenge von 82 Operationen
  • Blasenkrebs: 32 Todesfälle weniger bei einer Mindestmenge von 31 Operationen
  • Speiseröhrenkrebs: 65 Todesfälle weniger bei einer Mindestmenge von 22 Operationen
  • Bauchspeicheldrüsenkrebs: 124 Todesfälle weniger bei einer Mindestmenge von 29 Operationen
  • Lungenkrebs: 74 Todesfälle weniger bei einer Mindestmenge von 108 Operationen

Auf dem Portal BibliomedManager.de lässt sich für alle fünf Krebsoperationen analysieren, wie sich die Fahrtzeiten ändern, wenn Krankenhäuser unterhalb entsprechend einstellbarer Fahrtzeiten aus der Versorgung ausschieden, beispielsweise aufgrund von Mindestmengenregelungen. „Die gute Nachricht lautet, dass es unseren Daten zufolge bei den meisten Eingriffen der onkologischen Chirurgie nur in wenigen Regionen Deutschlands zu Fahrtzeiten von mehr als 60 Minuten käme, wenn die von Herrn Mansky ermittelten Mindestmengen verbindlich würden“, erklärt Dr. Dirk Elmhorst, Geschäftsführer des Informationsspezialisten Mediqon. „Fahrtzeiten von mehr als einer Stunde ergäben sich bei Blasenkrebs, Bauchspeicheldrüsenkrebs und Lungenkrebs in Teilen Brandenburgs, Sachsen-Anhalts und Mecklenburg-Vorpommerns sowie der Eifel und dem Bayerischen Wald“, sagt der Mediziner Elmhorst. Bei Darmkrebs-Operationen ergäbe sich in diesen Regionen eine Fahrtzeit von maximal 30 bis 60 Minuten.

Die Daten bestätigen Manskys Aussagen im aktuellen Qualitätsreport: „Die in Deutschland geführte Diskussion um die Erreichbarkeit von Kliniken ist zwar wichtig, wird aber gelegentlich als Abwehrdiskussion miss- braucht.“ Der Mediziner und Gesundheitsökonomie-Professor Mansky fordert angesichts seiner Daten die Politik zum Handeln auf. „In der Medizin fehlt es an Leitplanken, man könnte viel mehr tun, um Todesfälle zu vermeiden“, erklärte er. Es gebe in Deutschland viel zu viele Kliniken, die komplizierte Krebs-Operationen nur gelegentlich durchführten. „Da ist eine große Anzahl von Kliniken, bei denen die Krankenhausplaner etwas zu tun hätten“, sagte Mansky bei der Pressekonferenz im November.

Höhere Anforderungen, bessere Kontrollen

Manskys Daten zufolge haben in den Jahren 2009 bis 2014 492 Kliniken in Deutschland Darmkrebs-Operationen vorgenommen, obwohl sie nur „sehr niedrige“ Fallzahlen aufwiesen (23 pro Jahr). „Niedrige“ Fallzahlen (50) wiesen demnach 218 Häuser aus (Tabelle). Ein ähnliches Bild zeigt sich auch bei den anderen Krebs-Operationen (Tabelle „Darmkrebs-Operationen“).

Insgesamt hat der Wissenschaftler 25 Behandlungsanlässe untersucht, auch über die Krebschirurgie hinaus. Bei 20 habe er einen „signifikanten Zusammenhang“ zwischen Leistungsmenge und Mortalität nachweisen können. Im Qualitätsreport kritisiert er den Umsetzungsgrad der bestehenden Mindestmengenregelung in der Kniegelenk-Endoprothetik als „unbefriedigend“ und fordert, „die Umsetzung besser zu kontrollieren“. Außerdem solle die bestehende Mindestmenge von 50 Ein- griffen pro Jahr erhöht werden. An der Versorgung mit (elektiven) Endoprothesen des Hüftgelenks seien ebenfalls „zu viele Anbieter mit kleiner Fallzahl beteiligt“, die nicht „versorgungsnotwendig“ seien. „Auch für diesen Bereich ist die Einführung einer verbindlichen Mindestfallzahl zu fordern“, schreibt Mansky.

Er verweist darauf, dass die Einhaltung von Mindestfallzahlen in den Krankenhäusern regional sehr unterschiedlich sei (Kasten). Beispiel Lungenkrebs: Hier werden vor allem in Mecklenburg-Vorpommern (75 Prozent), Brandenburg (54 Prozent) und Bayern (47 Prozent) Manskys Daten zufolge viele Lungenkrebs-Patienten in Kliniken operiert, die weniger als 75 Operationen (Lungenresektion) im Jahr vornehmen. In Berlin dagegen betrifft das nur drei Prozent. „Aufgrund der wissenschaftlichen Erkenntnisse ist nach dem Stand der Literatur die Einführung einer Mindestmenge für die Lungenresektionen dringend zu fordern“, unterstreicht Mansky im Qualitätsreport.

Den Krankenkassen kommen die Aussagen gelegen. Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes, fordert eine Ausweitung von Mindestmengenregeln in der Onkologie, aber auch bei anderen Indikationen wie der Hüftendoprothetik. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) solle auch Fallzahlen für Lungenkrebs und Brustkrebs regeln. Auf Anfrage von f&w teilte eine Sprecherin des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-SV) mit, dass der GKV-SV plant, Anfang des kommenden Jahres nach Inkrafttreten der neuen G-BA-Mindestmengenregel und der Verfahrensordnung die Festlegung neuer Mindestmengen im G-BA zu beantragen. Konkrete Leistungen kann der GKV-SV noch nicht nennen, verweist aber auf das eigene Onlinemagazin „90 Prozent“ vom September 2017. Darin heißt es, dass die Mindestmenge für komplexe Eingriffe an der Speiseröhre in den Niederlanden doppelt so hoch (20) sei wie in Deutschland (zehn) und die Sterblichkeit mit vier Prozent nur halb so hoch.

Mit Blick auf Großbritannien heißt es, dass sogar eine Mindestmenge von 60 Speiseröhrenoperationen „gut umsetzbar“ sei. Als relevante Eingriffe für neue Mindestmengen werden Brust- und Prostatakrebsoperationen genannt. Der Gesetzgeber ist dabei nicht mehr gefordert, der G-BA kann selbst aktiv werden.

Viele Kliniken reißen die Mindestmenge

Die Vorstöße dürften ganz im Sinn von AOK-Chef Litsch sein. „Gelegenheitschirurgie ist nicht das, was eine Krankenkasse akzeptieren kann für ihre Versicherten, schon gar nicht, wenn der Zusammenhang so eindeutig ist zwischen Menge und Qualität“, sagte er bei der Pressekonferenz im November und appellierte an das eigene Lager der Krankenkassen: „Wir müssen als Krankenkassen mehr Druck auf die Krankenhäuser ausüben.“ Es dürfe keine Ausnahmen mehr geben, Leistungen dürften nicht bezahlt werden, wenn ein Krankenhaus die Mindestmenge nicht erfülle. Dazu seien die Krankenkassen rechtlich in der Lage. Litsch kritisierte, dass 20 Prozent der Krankenhäuser weniger als 500 Betten haben. „Wir brauchen zentralisiertere Strukturen, auch mit Blick auf das Personal.“ Die Politik solle dafür viel Geld in die Hand nehmen. Litsch plädierte sogar dafür, den Strukturfonds von derzeit einer Milliarde Euro auf 75 Milliarden Euro aufzustocken.

Der Klinik-Stresstest von Bibliomed und Mediqon vom September zeigte bereits, dass viele Kliniken in Deutschland die bereits bestehenden Mindestmengen reißen. Bisher gelten Mindestmengen für folgende Eingriffe:

  • Komplexe Eingriffe Ösophagus (Speiseröhre): mindestens zehn Fälle pro Jahr
  • Komplexe Eingriffe Pankreas (Bauchspeicheldrüse: mindestens zehn Fälle pro Jahr
  • Kniegelenk-Totalendoprothesen: Mindestmenge 50 Fälle pro Jahr
  • Lebertransplantationen: mindestens 20 Fälle pro Jahr
  • Nierentransplantationen: mindestens 25 Fälle pro Jahr
  • Stammzelltransplantationen: mindestens 25 Fälle pro Jahr

Dass Mindestmengen zumindest für bestimmte Leistungen sinnvoll sind, sehen auch viele Mediziner so. „Letztlich kann die Frage, ob Mindestmengen in der Chirurgie aus medizinischer Sicht sinnvoll sind, nur bejaht werden. Dazu gibt es eine ausreichende Fülle an Literatur“, sagte Prof. Dr. Karl-Dieter Heller, Chefarzt der Orthopädischen Klinik des Herzogin Elisabeth Hospitals in Braunschweig und Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Endoprothetik (AE), in der Septemberausgabe von f&w. „Die Versorgungsergebnisse werden besser, wenn hochfrequent und hochprofessionell gearbeitet wird, und außerdem sinken die Kosten pro Fall“, erklärte der Orthopäde damals.

Ins gleiche Horn stößt Prof. Dr. Ralf Kuhlen, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Initiative Qualitätsmedizin (IQM) und medizinischer Geschäftsführer der Helios Kliniken. Die Durchsetzung von Mindestmengen und Zentralisierung von Leistungen sei für Kliniken nicht einfach und ein „schmerzhafter Prozess“, der aber angesichts der eindeutigen Datenlage „absolut folgerichtig“ sei, sagte er bei der Pressekonferenz mit Mansky und Litsch im November (s. auch Interview S. 13). Viele der 410 IQM-Kliniken, die sich freiwillig für mehr Versorgungsqualität engagierten, seien die Themen Mindestmengen und Zentrenbildung schon lange vor der Ankündigung regulatorischer Eingriffe angegangen. Bei der Weiterentwicklung der IQM-Qualitätsindikatoren habe man Informationen über Mindestfallzahlen, die Breite des Leistungsangebots und die Leistungsmengen berücksichtigt.

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) warnte unterdessen per Pressemitteilung vor „vorschnellen und falschen Interpretationen“. Mindestmengen seien ein auch von den Kliniken längst anerkanntes Instrument der Qualitätssicherung, heißt es in einer Stellungnahme. Jedoch: „Eine einfache Kausalität vom operierenden Krankenhaus zum späteren Todesfall aus der Interpretation von Abrechnungsdaten ableiten zu wollen und damit den Eindruck vermeidbarer Todesfälle in den Raum zu stellen, ist schlichtweg unseriös.“ Grundsätzlich würden sich aber auch die Krankenhäuser neuen möglichen Vorgaben nicht verweigern.

Kinderchirurgen wollen seltene Eingriffe in Zentren konzentrieren

Wenn es nach der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH) geht, sollte sich die medizinische Versorgung künftig grundsätzlich ändern: Ärzte in wohnortnahen kinderchirurgischen Einrichtungen sollen zwar so wie bisher häufige Fälle behandeln. Anders soll es aber bei seltenen Erkrankungen und komplexen Fehlbildungen laufen. Um diese Fälle sollen sich künftig nur noch Ärzte in spezialisierten, kinderchirurgischen Zentren sowie in Kliniken der Maximalversorgung kümmern. Diese Idee für eine Neuordnung in der Kinderchirurgie stellte der DGKCH-Präsident Prof. Dr. Peter P. Schmittenbecher Anfang Dezember vor. Bislang verteilen sich nach Ansicht der Kinderchirurgen die Eingriffe bei seltenen Erkrankungen auf zu viele Kliniken. Zum Beispiel bei der Gallengangsatresie: Hierbei gebe es pro Jahr lediglich etwa 50 Neuerkrankungen in Deutschland, so Schmittenbecher. Die Behandlung verteile sich auf etwa 40 Kliniken. „Das halten wir für keine gute kinderchirurgische Versorgung“, so der DGKCH-Präsident. Damit das nötige Wissen vor Ort vorhanden sei und die Patienten gut nachbetreut werden könnten, sei eine Zentralisierung notwendig. Beispielsweise sollen bei der Gallengangsatresie künftig nur noch einige wenige Zentren die Behandlung übernehmen. Für die Fachgesellschaft ist das ein Umdenken: Man habe sich von der „Zurückhaltung gegenüber Mindestmengen abgewendet“, so Schmittenbecher. Nun wollen die Kinderchirurgen mit den Gremienmitgliedern im Gemeinsamen Bundesausschuss zu dem Thema ins Gespräch kommen.

hb

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