Dr. h. c. Helmut Hildebrandt ist Vordenker 2022. Die Jury würdigt sein langjähriges und hartnäckiges Engagement für eine bessere Gesundheitsversorgung. Im Interview erklärt Hildebrandt, warum eine Rückbesinnung auf die Region überfällig ist, wie der Wettbewerb im Gesundheitswesen neu justiert werden kann und wieso Investoren dabei willkommen sind.
Herr Hildebrandt, herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung als Vordenker 2022! Sie sind ein Pionier der regionalen, integrierten Versorgung. Welches Potenzial schlummert Ihrer Meinung nach in den Regionen?
Für mich bedeutet mehr Regionalisierung vor allem eine Entfaltung neuer Möglichkeiten. Fast jeder im Gesundheitswesen fühlt sich von den immer stärker überbordenden zentralistischen Regelungen erdrückt. Ich möchte, dass wir Krankenhäusern, Ärzten, Apothekern und allen anderen Akteuren neue Freiräume geben, sich für Gesundheit zu engagieren. Auf der regionalen Ebene ist das eher möglich. Denn es ist die regionale Ebene, auf der Gesundheit erzeugt oder geschädigt wird.
Sie haben ein umfangreiches Konzept für die integrierte Versorgung vorgelegt. Was genau fordern Sie?
Erstens: Die Politik muss klare Ziele setzen, die sie mit integrierter Versorgung (IV) erreichen will. Das ermöglicht es uns, die Hindernisse zu beseitigen, die dem im Wege stehen. Ein gutes Beispiel ist die Rolle des Bundesamts für soziale Sicherung (BAS). Es denkt bislang vor allem in indikationsbezogenen Integrationsverträgen und Fee-for-service-Ansätzen, was bei einem populationsbezogenen Ansatz wenig sinnvoll ist. Hier brauchen wir deutlich mehr Dynamik. Zweitens sollten wir vor allem die Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassen dazu verpflichten, regionale Versorgungsdaten offenzulegen. Diese könnten dann die regionalen Akteure und der Öffentliche Gesundheitsdienst nutzen, um Versorgungsbedarfe besser einzuschätzen und darauf zu reagieren. Drittens: Es ist sehr aufwendig, für jedes Projekt einen neuen Vertrag aufzusetzen. Wir brauchen standardisierte Verträge in den Regionen, die zum Beispiel auch dafür genutzt werden können, die Co-Finanzierung zu beantragen. Letzter Punkt: Wenn wir das Gesundheitssystem wirklich in Richtung mehr Gesundheit und weniger Morbidität drehen wollen, dann müssen wir heute investieren, um die Folgekosten von Krankheit in der Zukunft zu vermeiden. Das wird der Staat angesichts der aktuellen Belastungen kaum alleine machen können, dazu braucht er die regionalen Akteure.
Wer wäre aus Ihrer Sicht am besten geeignet, mit einem solchen Projekt loszulegen?
Aus meiner Sicht gibt es da viele gute Möglichkeiten. Das kann ein kommunales oder privates Krankenhaus sein, eine Gruppe von Ärzten oder Apothekern, vielleicht auch ein Wohlfahrtsverband oder private Initiatoren. Entscheidend ist, dass wir all diese Akteure in einen Wettbewerb um das beste Ergebnis versetzen. Unser größtes Problem im Gesundheitssystem ist doch, dass mit immer mehr Leistungen immer mehr Geld verdient wird. Das ist aber, wie wir aus der Medizin heraus wissen, nicht immer richtig.
Wie lösen wir das Thema Vergütung?
Keine Frage: Mittel- und langfristig werden wir die bestehenden Vergütungssysteme wie DRG oder EBM wegen ihrer Fehlanreize verändern müssen. Das ist komplex. So lange müssen wir aber gar nicht warten. Wir benutzen für unsere IV-Verträge ja gern den Begriff „Einsparcontracting“. Man kann es aber auch Regionalbudget nennen, das man sich als Volumen aller Leistungen für die Menschen in einer Region vorstellen kann: von der Physio über das Krankengeld, die Krankenpflege oder das Krankenhaus. Diese Kosten kommen bei der Krankenkasse an. Unser Vorschlag lautet: Wir prüfen, was heute schon für diese Region verbraucht wird, und vergleichen das mit der Entwicklung der kommenden Jahre. Wenn die Kosten geringer steigen als im Bundesdurchschnitt, hat man einen guten Maßstab. Von diesem Delta, das die Kassen gespart haben, bekommt das Konsortium, das sich auf ein solches, retrospektiv dann festgestelltes Regionalbudget eingelassen hat, einen Anteil. Der große Vorteil dieser Lösung: Sie passt zu der Finanzknappheit der aktuellen Situation und mobilisiert ein Interesse an der klugen und rechtzeitigen Vermeidung von Morbiditätssteigerungen.
Die Kommunen glänzen bislang nicht als Systemreformer, beispielsweise wenn es um die Schließung oder Umwandlung von Kliniken geht. Überschätzen Sie deren Rolle?
Es gibt in Deutschland eine organisierte Nichtverantwortlichkeit. Wenn in einer Region Versorgungsengpässe entstehen, dann ist dafür praktisch niemand zuständig. Die Kassenärztliche Vereinigung zuckt mit den Schultern und kann sich keine Ärzte backen, das Krankenhaus verweist darauf, dass es nichts tun darf. Die Krankenkassen wiederum sind nur für ihre Versicherten zuständig. In einigen Bundes- ländern gibt es die kommunalen Gesundheitskonferenzen. Damit haben die Landräte zumindest die Möglichkeit, die Akteure im Gesundheitswesen an einen Tisch zu bringen. Von Einzelfällen abgesehen hat sich da aber leider noch nicht so viel Dynamik entwickelt. Ich glaube, das wäre anders, wenn diese Konferenzen auch über regionale Leistungsdaten verfügen würden – um zu sehen was ihnen bei einer immer älteren Gesellschaft droht. Daraus könnte ein stärkerer Impuls entstehen, wenn dann aus so einer Region sich ein Konsortium entwickelt, das sagt: Einen IV-Vertrag, wie ich ihn oben skizziert habe, wollen wir bei uns umsetzen. Damit würde, wenn es die politische Zielsetzung und eine andere Ausrichtung des BAS gäbe, ein anderer Schwung in die notwendigen Transformationen kommen. Und die Krankenkassen kämen unter einen Druck, sich dafür zu öffnen.
Welche Größe könnte eine solche Versorgungsregion umfassen? Einen Landkreis?
Einige Landkreise sind ja schon recht groß. Für eine solche Reorganisation muss es auch eine Vertrauensbasis geben Da ist es hilfreich, wenn man sich kennt. 70.000 bis 150.000 Einwohner sind eine gute Größenordnung.
Gibt es einen Typ Krankenhaus, der besonders gut geeignet wäre, an einem solchen Pilotversuch mitzuwirken?
Im Grunde kann jedes Haus Partner eines solchen regionalen Konsortiums werden. Das Kommunale hat vielleicht eher Schwierigkeiten zu investieren. Das Private kann investieren, ihm fehlen aber die Reputationsvorteile. Ich glaube, entscheidend sind der strategische Blick und die Transformationsnotwendigkeit. Gerade in Städten mit überlappendem Einzugsgebiet ist es sehr interessant für Krankenhäuser, sich zu beteiligen. Wer es schafft, eine medizinische Kooperation mit den Niedergelassenen zu schmieden, ist im Vorteil.
Krankenhäuser wollen jetzt fürs Nichtstun bezahlt werden, hört man aus dem Kassenlager, auch mit Blick auf die Debatte um Vorhaltekosten. Wie schätzen Sie das ein?
Genau das ist doch richtig! Genau so macht es Kaiser Permanente, so machen es die großen amerikanischen Accountable-Care-Organisationen. Sie werden für das Nichtstun bezahlt – auch wenn man es so natürlich falsch ausdrückt. Sie tun etwas nicht stationär, sondern sie verlagern ihre Dienstleistungen in den ambulanten Sektor und die Prävention. Wir müssen die Denke bei uns umkehren. In unserem Gesundheitssystem nehmen wir uns dem Kind erst an, wenn es bereits in den Brunnen gefallen ist, und versuchen dann, es unter maximalem Einsatz wieder herauszuholen. Unsere Vergütungssysteme lenken uns da in die falsche Richtung – auch der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich wirkt ähnlich bei den Krankenkassen. Ein Patient, der kurz vor einem Diabetes mellitus steht, bringt einer Kasse weniger Zuweisungen aus dem Fonds als ein Versicherter, der gerade so als Diabetiker codiert wurde.
Haben Sie Vorbehalte gegenüber privaten Investoren in regionalen Versorgungsprojekten?
Unter den gegenwärtigen Bedingungen wird unternehmerisches Handeln im Gesundheitswesen sehr negativ betrachtet, nach dem Motto: Die ziehen doch eh nur Geld aus dem Solidarsäckel. Wenn wir aber ein Businessmodell schaffen, das denjenigen einen wirtschaftlichen Vorteil bringt, die maximale Gesundheit produzieren, dann würde ich doch sagen: wunderbar! Wenn dort ein Wettbewerb einsetzt, wird sich die Marge, die am Anfang verdient werden kann, im Lauf der Jahre reduzieren. Wir brauchen einen Wettbewerb um Gesundheit, nicht um Krankheit.
Das Gesunde Kinzigtal ist Ihr Leuchtturmprojekt. Im vergangenen Jahr kam eine Evaluation zu einem recht ernüchternden Ergebnis, dass es kaum Verbesserung gebracht hat.
Das Indikatorenset war leider unglücklich gewählt. Der eigentliche Effekt, den wir anstreben, nämlich Krankheitsminderung, konnte mit dieser Evaluation nicht gemessen werden. Stattdessen wurde geprüft, wie behandelt wird, wenn eine Krankheit tatsächlich schon vorhanden ist. Wir versuchen im Kinzigtal aber gezielt, Bewegung und Ernährung gegenüber Arzneimitteln zu bevorzugen. Außerdem investieren wir viel in Prävention. Letztendlich war die Evaluation aber trotzdem interessant. Es kam ja heraus, dass trotz der deutlich geringeren Kosten im Kinzigtal die gleiche medizinische Qualität festzustellen ist. Und wir können aus den insgesamt über acht schon entstandenen Evaluationstudien lernen. Wir wollen nun zum Beispiel messen, ob wir es geschafft haben, dass Menschen später pflegebedürftig werden oder später einen Diabetes entwickeln, einer Dialyse bedürfen. Hierzu haben wir auch schon erste Ergebnisse veröffentlicht (s. auch bibliomedmanager.de/kinzigtal). Gemeinsam mit dem Deutschen Netzwerk für Versorgungsforschung entwickeln wir derzeit ein neues Standardindikatorenset für integrierte Versorgungsverträge.
Lassen Sie uns abschließend einen Blick auf die Bundes-politik werfen. Sie haben das Wahlprogramm der Grünen maßgeblich geprägt. Sind Sie enttäuscht, dass Ihre Partei beim Gesundheitsministerium nicht zugegriffen hat?
Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) war durchaus auf der Agenda der Grünen. Gleichzeitig war klar, dass es ein ausgesprochen schwieriges Ministerium sein würde und dass andere Ministerien angesichts der Klimakrise von besonderer Bedeutung sein würden: Außenpolitik, Wirtschaft und Umwelt. Es wäre sicher eine gute Überlegung gewesen, die Ministerien für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie Gesundheit zusammenzubringen, so wie es früher auch schon einmal war. Dann hätte man auch den sozialen Aspekt zusammengehabt, gerade das Aufwachsen der Kinder ist ja eine ganz wichtige Variable für Gesundheit. Auch Sport und Gesundheit hätte ich eine gute Kombination gefunden.
Einen roten Faden vermissen viele im Gesundheitskapitel. Sie auch?
Es wäre schön gewesen, etwas mehr klare Strategie darin zu finden. Ich weiß aus den Verhandlungsgesprächen, dass das alles schon Thema war. Dass mit Karl Lauterbach ein Public-Health-Experte und Epidemiologe das BMG übernommen hat, stimmt mich aber optimistisch.
Laudatio der Jury
Dr. Helmut Hildebrandt ist ein Pionier der regionalen, integrierten Versorgung in Deutschland. Seit über 35 Jahren arbeitet er intensiv und erfolgreich daran, das Gesundheitssystem von Grund auf zu verbessern – mit unternehmerischem Mut, Weitsicht und Hartnäckigkeit. Er prägte von Anfang an die Diskussionen über Managed-Care-Programme und vernetzte Strukturen, die Überwindung der Sektoren und den Aufbau von Netzwerken in den Regionen.
In einigen Regionen hat er seine Ideen erfolgreich realisiert und damit – auch international – viel Aufmerksamkeit erregt. Im „Gesunden Kinzigtal“ setzt Helmut Hildebrandt seit vielen Jahren das um, was Wissenschaft und Politik schon lange fordern: Alle Health Professionals ziehen gemeinsam an einem Strang. Dieses Konzept hat er mit neuen Facetten, zum Beispiel in Hamburg (Gesundheit für Billstedt/Horn) und Hessen (Gesunder Werra-Meißner-Kreis), weiterentwickelt. Besonders wichtig ist Hildebrandt die Umkehr von Anreizen hin zu einem System, in dem die Gesunderhaltung der Menschen das Ziel ist und in dem die Akteure für ihren Einsatz für Gesundheit sowie Effizienz belohnt werden.
Dank seines umfassenden Netzwerks treibt er seine Ideen stetig weiter voran und setzt sich dafür ein, dass die Bedingungen für die Integrierte Versorgung auch auf politischer Ebene verbessert werden. Helmut Hildebrandt ist es maßgeblich zu verdanken, dass die Idee einer regionalen, vernetzten und patientenorientierten Neuausrichtung des deutschen Gesundheitssystems inzwischen breit diskutiert wird und endlich auf der Agenda der Bundespolitik angekommen ist.
Die Jury
- Florian Albert, Chefredakteur f&w, Bibliomed
- Prof. Dr. Jörg F. Debatin, Healthcare Entrepreneur
- Prof. Heinz Lohmann, Ehrenvorsitzender, Initiative Gesundheitswirtschaft
- Dr. Iris Minde, Geschäftsführerin, Klinikum St. Georg Leipzig
- Sabine Brase, Pflegedirektorin, Klinikum Oldenburg
- Prof. Dr. Michael Forsting, Direktor, Institut f. Diagn. u. Intervent. Radiologie & Neuroradiologie, Universitätsklinikum Essen
- Dr. Valerie Kirchberger, Chief Medical Officer, Heartbeat Medical
- Prof. Dr. Alexander Schachtrupp, Geschäftsführer, B. Braun-Stiftung
Vita
Dr. h. c. Helmut Hildebrandt ist Vorstandsvorsitzender der OptiMedis AG und Geschäftsführer der Gesunder Werra-Meißner-Kreis GmbH in Nordhessen. Seit vielen Jahren entwickelt und managt er regionale populationsbezogene IV-Systeme. Das bekannteste Modell, das Gesunde Kinzigtal, leitete er als Geschäftsführer von 2005 bis 2018. Der Apotheker und Gesundheitswissenschaftler hat viele Jahre für die Weltgesundheitsorganisation an Präventionsprojekten mitgearbeitet und über 20 Jahre Krankenkassen, Verbände, Unternehmen und Einrichtungen der Gesundheitswirtschaft in Organisation, Strategie und Systementwicklung beraten. Als Co-Vorsitzender der Gesundheitspolitischen Kommission der Heinrich-Böll-Stiftung hat Hildebrandt an den 2013 veröffentlichten Empfehlungen für eine Reformierung des Anreiz- und Vergütungssystems in Richtung Qualität und Effizienz mitgearbeitet.