Das Interesse von Karl Lauterbach für bestimmte Themen bewegt sich in Wellen. Als er sich 2019 zusammen mit der Umweltpolitikerin Nina Scheer um den Vorsitz der SPD bewarb, beschäftigte er sich intensiv mit der Klimapolitik. Dann folgte die Zeit der Coronapandemie, in der sich der heutige Gesundheitsminister nächtelang durch aktuelle Studien wälzte und Dauergast in den Talkshows war. Nach der Amtsübernahme war Lauterbach wegen der Fülle der Themen, für die er plötzlich verantwortlich war, kurz orientierungslos – bis er die Krankenhausreform zu seinem Hauptthema machte. Doch mittlerweile hat er sie als geistige Herausforderung abgehakt, weil die Reform zumindest in den Grundzügen steht. Sein neustes Steckenpferd ist die künstliche Intelligenz (KI), und hier vor allem die Verarbeitung von Gesundheitsdaten.
Lauterbach hat sich darüber inzwischen einiges Wissen angeeignet, bei einer Reise in die USA vor einigen Wochen stand das Thema auf dem Besuchsprogramm. Seine bei Gesprächspartnern gefürchteten Monologe widmet er inzwischen oft der Frage, ob Deutschland noch Chancen hat, der Dominanz der Amerikaner auf diesem Feld Paroli bieten zu können. Seine Antwort klingt plausibel: Bei Forschung und Entwicklung werde Deutschland kaum aufholen können, auch weil die USA mit dem „Inflation Reduction Act“ massiv in die eigene Wirtschaft investiert. Die Deutschen hätten aber etwas zu bieten, worüber die Amerikaner aufgrund ihres weitgehend privaten und damit zersplitterten Gesundheitswesens nicht verfügten: die Daten von über 70 Millionen gesetzlich Versicherten, mit denen eine KI gefüttert werden kann. Dieser Schatz muss nach Ansicht des Ministers gehoben werden, auch um die Pharmaindustrie in Deutschland zu halten. Eine interessante Entwicklung für einen Politiker, der noch vor einigen Jahren gegen die seiner Meinung nach übermächtige Pharmalobby kämpfte.
Zwei Gesetze in Sachen Datennutzung hat Lauterbach inzwischen auf den Weg gebracht: Mit dem „Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens“ soll bis Anfang 2025 jedem Versicherten die elektronische Patientenakte automatisch eingerichtet werden. Mit einer„Opt-out“-Lösung erhofft sich Lauterbach, der ePA, die bisher nur auf Anforderung eingerichtet wird, zum Durchbruch zu verhelfen. Eng damit verknüpft ist das „Gesundheitsdatennutzungsgesetz“, mit dem erstmals Gesundheitsdaten aus verschiedenen Quellen verknüpft werden können, in einem ersten Schritt die Abrechnungsdaten der Kassen und das Krebsregister. Um die bürokratischen Hürden bei der Datennutzung zu senken, soll zudem eine zentrale Koordinierungsstelle eingerichtet werden.
Beide Gesetze sind eng miteinander verknüpft, denn Lauterbach will auch die ePA-Daten pseudonymisiert für die Forschung nutzbar machen. Damit möglichst viele mitmachen, plant er für die Freigabe der Daten durch die Versicherten ebenfalls ein „Opt-out“, bei der ein Widerspruch ausdrücklich erklärt werden muss. Dabei schießt er aber möglicherweise übers Ziel hinaus. Nicht nur der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber sieht das äußerst kritisch. Auch in der Ampelkoalition gibt es die Sorge, dass Lauterbach die längst überfällige Einführung der ePA damit unnötig belastet. Versicherte könnten die Akte nur noch als Geschenk für die Pharmaindustrie betrachten und sie deshalb gleich ganz abwählen, wird befürchtet.