Bund und Länder haben sich in der Krankenhausreform verhakt. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wäre am Ende hilfreicher als ein scheinbar tragfähiger Kompromiss, findet Ulrich Wenner, Vorsitzender Richter am Bundessozialgericht a. D.
Herr Wenner, das Grundgesetz wurde 75 Jahre alt und entsprechend gefeiert. Hat es sich auch mit Blick auf die Gesundheitspolitik bewährt?
Würde man das Grundgesetz noch einmal schreiben, würde man die Bund-Länder-Zuständigkeit vermutlich anders gestalten – nicht nur im Gesundheitsbereich. Aus heutiger Sicht würde man vermutlich den Bund deutlich stärker in die Verantwortung nehmen, auch wegen der Krankenversicherung und globaler Fragen wie Epidemien oder der Prävention. Andererseits würde man die Länder finanziell deutlich unabhängiger vom Bund aufstellen. Es ist ein sehr unglücklicher Zustand, dass die Länder bei jeder neuen Aufgabe – etwa auch im Bildungsbereich – nach mehr finanziellen Mitteln des Bundes rufen müssen.
Plädieren Sie für eine weitere Föderalismusreform?
Nein, es wäre aus meiner Sicht vergeudete Zeit, über so eine Megareform inklusive eines neuen Länderfinanzausgleichs zu verhandeln. Der letzte Versuch der Enquetekommission von 2006 hat die Länder gestärkt – dann kamen bekanntlich die Finanzkrise und Corona. Jetzt operieren wir die Zuständigkeiten des Bundes Stück für Stück zurück, weil wir merken, dass vieles nur zentralstaatlich geregelt und auch finanziert werden kann. Meine Prognose: Die nächsten 25 Jahre werden wir mit dem aktuellen Stand leben müssen und nur punktuell das Grundgesetz anpassen – auch soweit die Gesundheit betroffen ist.
Bund und Länder haben sich bei der Krankenhausreform kräftig verhakt. Ist die Gesundheitspolitik in diesen Zeiten noch handlungsfähig?
Sie wäre aus meiner Sicht handlungsfähig, nur fehlt es im Bereich Krankenhäuser hinsichtlich der Gesetzgebungskompetenzen an Klarheit. Und die kann in unserer Verfassungsordnung nur vom Bundesverfassungsgericht kommen. Dessen Grundaussagen, was der Bund im Krankenhausbereich kann, sind Jahrzehnte alt und nur im ganz Kleinen fortgeschrieben worden. Insofern wäre der aktuellen Reform zu wünschen, dass man keinen nur scheinbar tragfähigen Kompromiss findet, sondern dass der Bund auf Basis des Entwurfs von Minister Lauterbach durchzieht und die Länder dann – wenn sie das für nötig halten – in Karlsruhe klären lassen, ob der Bund das darf oder nicht. Dann wissen wir für die kommenden Reformschritte wenigstens, wo es langgeht, und wir müssen nicht immer neue Gutachten einholen.
Die Länder vernachlässigen seit Jahren ihre Aufgabe der Investitionsfinanzierung. Fällt so eine Tatsache vor Gericht ins Gewicht?
Ich bin skeptisch, ob das Verfassungsgericht dazu etwas schreiben würde, sondern vermute, dass es ein klassisches Kompetenzurteil würde. Allerdings: Nur wenige Verfassungsgerichte in Europa nehmen feine Strömungen in Politik und Gesellschaft so gut auf wie das Bundesverfassungsgericht. Insofern denke ich, dass es natürlich schon eine Rolle spielen wird, dass die Länder den Part, den sie 1969 übernommen haben, nämlich die Investitionen tatsächlich zu finanzieren, über 50 Jahre nicht eingelöst haben. Wenn der Bund nun die Anzahl der Häuser reduziert, um die Investitionen durch die Länder besser auf die verbliebenen Häuser verteilen zu lassen, dann kann ich mir schwer vorstellen, dass das nicht zumindest subkutan eine gewisse Rolle in Karlsruhe spielt. Mindestens in dem Sinne: Der Bund macht etwas Vernünftiges, warum sollte er das nicht tun dürfen?
Besonders heikel ist Minister Lauterbachs Plan, die Transformation der Kliniklandschaft über Mittel der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlen zu wollen. Wie schätzen Sie dies ein?
Prognosen über Verfassungsgerichtsurteile sind schwierig. Aber ich vermute, dass dieses Vorhaben nicht halten wird.
Ein gutes Beispiel für den aktuellen Stand der Rechtsprechung ist die höchstrichterliche Entscheidung zur Zwangsfinanzierung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung durch die Krankenkassen. Damals hat das Bundessozialgericht klar entschieden, dass die Verwendung von Zwangsmitteln für Präventionszwecke verfassungswidrig ist. Karlsruhe hatte das zwar nicht überprüft, aber ein anderes Urteil wäre ein fundamentaler Bruch mit der bisherigen Rechtsprechungslinie.
Der Minister scheint dennoch entschlossen, das durchziehen zu wollen.
Davor kann ich nur warnen, verfassungsrechtlich ist das ein Hochrisikospiel. Es ist offensichtlich, dass an dieser Stelle eine Steuermittelknappheit auf Kosten der Sozialversicherung gelöst werden soll. Wenn ein solches Gesetz nicht hält und nach beispielsweise drei Jahren von Karlsruhe gekippt wird, müsste der Bund auf einen Schlag mehrere Milliarden Euro sofort über den Gesundheitsfonds an die Kassen zurückzahlen. Wie man das riskieren kann, ist mir völlig schleierhaft.
Jede Gesundheitsreform betrifft auch privatwirtschaftliche Akteure wie niedergelassene Ärzte, private Krankenhausunternehmen oder MVZ – eine zusätzliche Hürde. Wie viel Spielraum hat der Gesetzgeber hier?
Die Spielräume für gestalterische Vorhaben sind deutlich größer als gemeinhin angenommen wird. Klar ist: Sobald privatwirtschaftliche Akteure im Spiel sind, sind legal aufgebaute Besitzstände zu schützen. Ein Beispiel sind die von Investoren gestützten MVZ. Wer diese legal gegründet hat, genießt einen grundrechtlichen Schutz. Ob der unbegrenzt ist, muss man im Einzelfall sehen. Aber daraus zu schließen, dass diese Chancen auch künftig weiter bestehen bleiben müssen, aus verfassungs- oder europarechtlichen Gründen: Das ist ausdrücklich nicht richtig.
Die Kassenärztliche Vereinigung wittert im Rahmen der Krankenhausreform eine einseitige Förderung von Kliniken und will deshalb die EU-Kommission einschalten. Hat das Aussicht auf Erfolg?
In einem regulierten Markt übernimmt der Gesetzgeber eine Schutzfunktion denen gegenüber, die in diesem regulierten Markt tätig sind. Der Sicherstellungsauftrag der KV ist zentral, aber nicht in allen derzeitigen Facetten vom Grundgesetz geschützt. Entscheidend sind aus meiner Sicht gleiche Wettbewerbsbedingungen. Wenn eine innere Abteilung eines mittelgroßen Krankenhauses für ambulante kardiologische Behandlungen geöffnet wird, dann muss auch gleichzeitig der entsprechende Planungsbereich für niedergelassene Kardiologen frei sein. Die Öffnung der doppelten Facharztschiene bei Beibehaltung der vertragsärztlichen Bedarfsplanung wäre aus meiner Sicht nicht grundgesetzkonform.
Herrscht Wettbewerbsgleichheit, wenn ein hoch subventioniertes, eigentlich defizitäres kommunales Haus in die ambulante Versorgung drängt?
Dass ein Krankenhaus andere Vorhaltekosten hat, wenn es hochbetagte, multimorbide Patienten versorgt und diesen die Sicherheit eines vollstationären Betriebs im Hintergrund garantieren will, ist nachvollziehbar. Wenn dieser Aspekt aber keine Rolle spielt, müsste dies bei der Gestaltung der Gebührensätze berücksichtigt werden. Oder es muss von vorneherein ein Katalog von Leistungen definiert werden, den beide erbringen dürfen – oder zu gleichen Bedingungen erbringen müssen. Klar ist aber auch: Ein Haus, das von den Krankenkassen nach dem Konzept des Ministers Lauterbach 60 Prozent Vorhaltung bekommt, darf dieses Geld nicht nutzen, um Vertragsärzten Konkurrenz zu machen. Das muss klar abgegrenzt werden.
Stichwort Selbstverwaltung: Herr Lauterbach hat die Kompetenzen des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zunehmend beschnitten. Brauchen wir dieses Gremium noch?
Am G-BA führt aus meiner Sicht kein Weg vorbei. Ich kann nur davor warnen, einen „Neben-G-BA“ oder „speziellen G-BA“ mit kommunaler Anreicherung ins Spiel zu bringen, wie es manche erwägen. Die jahrzehntelange Debatte um die verfassungsrechtliche demokratische Legitimation des G-BA hat mit einem Erschöpfungsunentschieden geendet – spätestens 2015, als das Verfassungsgericht gesagt hat: Grundsätzlich geht das, aber es kommt auf die einzelne Ermächtigung an. Wer nun Verschiebungen vornehmen will, auch an der Besetzung des G-BA, läuft Gefahr, eine erneute jahrzehntelange Auseinandersetzung um dessen demokratische Legitimation zu führen, deren Ausgang sehr schwer vorhersehbar ist.
Also auch keine vollwertige Beteiligung der Pflege mit Stimmrecht, wie von der Lobby gefordert?
Mir ist der Pflegebereich wichtig, aber ich würde dringend von diesem Schritt abraten. Wir müssten dann auch über die Legitimation in den Pflegeverbänden sprechen, die Bänke neu austarieren und stünden bei jedem Streitpunkt im Plenum vor der Frage, ob ein Pflegeaspekt geregelt würde, über den dann die Pflegevertreterin oder der Pflegevertreter mit abstimmen müsste. Ich empfehle eine Verfahrensordnung, in der alle Interessenvertreter – auch Pharmaindustrie, Apotheker usw. – ihre Interessen einbringen können, die Bänke aber so bleiben wie sie sind.
