Überzogenes Sicherheitsdenken erdrosselt Fortschrittsgeist

Mehr Mut!

  • Risikomanagement
  • Titel:Einführung
  • 01.04.2014

Gesundheits Wirtschaft

Ausgabe 4/2014

Risikominimierung spielt in der Medizin traditionell eine große Rolle. Dabei erdrosselt überzogenes Sicherheitsdenken auch hier Fortschrittsgeist und Kreativität. Ein Plädoyer für mehr Risikobereitschaft in der Gesundheitswirtschaft.

Mit Ängsten kennen sich die Deutschen bestens aus: Lebenshaltungskosten, die Wirtschaft, Naturkatastrophen – und natürlich die eigene Gesundheit. Darum sorgen sie sich am meisten, wie eine Umfrage der RV Versicherung zutage gefördert hat. So groß derlei Ängste sind, so intensiv ist das Bemühen, sich vor ihrem Eintritt zu schützen: Wirtschaftsweise treffen Prognosen, wie sich Konjunktur- und Wachstum entwickeln werden, immer genauere Frühwarnsysteme sollen rechtzeitig bei Erdbeben Alarm schlagen, eine gigantische Überwachungs-Industrie Terroranschläge verhindern. Nichts soll mehr dem Zufall überlassen werden. Doch was wir auch immer tun: Eine absolute Sicherheit gibt es nicht. Oder, wie der Soziologe Niklas Luhmann schon vor über 20 Jahren schrieb: Es gibt kein risikofreies Verhalten. Der Glaube, dass man durch immer mehr Wissen und Forschung einen Zustand der Sicherheit erreichen kann, sei eine Illusion.

Früherkennung in der Kritik

Sicherheit spielt in der Hochrisikobranche Medizin traditionell eine große Rolle. Anstrengungen, menschliche Fehler zu vermeiden und Gefahren vorzubeugen, haben die medizinische Versorgung entscheidend verbessert. Dabei ist das Potenzial nach Meinung vieler Experten noch lange nicht ausgereizt. 60 bis 70 Prozent der unerwünschten Ereignisse und Beinahefehler im Krankenhaus werden nach wie vor durch menschliches Versagen verursacht, rechnet Prof. Dr. Hartmut Siebert, stellvertretender Vorsitzender des Aktionsbündnisses Patientensicherheit, vor. Doch so wichtig Risikominimierung auch ist, so leicht kann das Streben nach Schutz auch ins Gegenteil umschlagen. Denn überzogenes Sicherheitsdenken würgt auch im Medizinbetrieb Kreativität, Forscher- und Fortschrittsgeist ab. Nicht selten birgt es sogar Gefahren. Ein Beispiel ist die in diesem Sommer entflammte Debatte über die Krebs-Früherkennung. Bislang galt sie vielen als wichtige Errungenschaft, um Krankheiten schon früh zu erkennen und sie noch therapieren zu können. Erst im Mai hatte die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) eine Werbekampagne für das regelmäßige Hautkrebsscreening gestartet. Auf der Website ist zu lesen, dass hierzulande jährlich mehr als 230000 Menschen neu an Hautkrebs erkranken, doch nur 30 Prozent aller Anspruchsberechtigten die Früherkennung nutzen. Diese helfe, Hautkrebs möglichst früh zu entdecken, heißt es dort. Doch inzwischen mehren sich die Zweifel, dass das regelmäßige Screening von Menschen, die noch gar keine Krankheitssymptome zeigen, tatsächlich den Nutzen hat, den es verspricht. Eine unerwartete Grätsche zum Kampagnenstart setzte dann auch ausgerechnet Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery, der Präsident der Bundesärztekammer. Er forderte ebenfalls im Mai in der Berliner Zeitung, dass Nutzen und Risiken der Früherkennung stärker hinterfragt werden müssten. Studien zeigten, dass sich durch sie das Screening die Zahl der Todesfälle statistisch betrachtet nur marginal senken ließe, so Montgomery.

Auch wenn er damit manche Kollegen gegen sich aufbrachte: Derlei Kritik ist nicht neu – und sie nimmt weiter zu. Ähnlich hatte sich bereits Anfang des Jahres Prof. Dr. Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), geäußert. Seiner Meinung nach sind nicht nur das Hautkrebsscreening, sondern auch die Tastuntersuchung nach Prostatakrebs sowie der regelmäßige allgemeine Check-up fragwürdig. Auch das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin (DNEbM) kritisiert, dass der Nutzen der Hautkrebsfrüherkennung nach wie vor nicht bewiesen sei. Der Verband stellt sogar das Mammografie-Screening für Frauen in Frage – mit ähnlicher Begründung: Angesichts des bislang kaum oder nicht bewiesenen Nutzens sei der Schaden, der durch Überdiagnosen und Übertherapien gesunden Frauen zugefügt werde, nicht länger hinnehmbar. Mitte Juli berichtete der Spiegel, dass inzwischen selbst einstige Verfechter der Früherkennung diese in Frage stellen, etwa der SPD-Politiker Prof. Dr. Dr. Karl Lauterbach. Man merke: Das Streben nach Sicherheit und Gewissheit birgt neue Risiken.

Einer der schärfsten Kritiker dieser von der Solidargemeinschaft finanzierten und hunderte Millionen Euro teuren Programme ist Prof. Dr. Gerd Gigerenzer. In seinem im vergangenen Jahr veröffentlichten Buch „Risiko" kritisiert der Psychologe, dass viele Menschen den Nutzen des Mammografie-Screenings massiv überschätzen – hierzulande satte 98 Prozent der Bürger. Nicht, weil sie zu dumm seien, sondern weil zum einen die zugehörigen Informationen falsch kommuniziert würden, und weil es zum anderen den meisten Menschen an Risikokompetenz mangele. Diese sehnen sich zwar nach Sicherheit, sind Gigerenzer zufolge aber nicht in der Lage, mit Situationen umzugehen, in denen nicht alle Risiken bekannt und berechenbar sind.

Mangel an Risikointelligenz

Zum Beispiel wüssten viele Eltern, die sich von einem genetischen Screening ihrer Kinder Sicherheit erhoffen, nicht, dass diese Tests unsicher sind. Die Folge: Sie setzen Geld und Gesundheit aufs Spiel, erliegen unbegründeten Hoffnungen und Ängsten. Im 21. Jahrhundert, so Gigerenzer, sei Risikointelligenz jedoch so unentbehrlich, wie es „Lesen und Schreiben in früheren Jahrhunderten waren." Denn ohne sie können wir uns in der unübersichtlichen, modernen technologischen Gesellschaft nicht zurecht finden. Noch nie standen der Menschheit mehr Informationen zur Verfügung. Heute komme es aber nicht mehr nur darauf an, gut informiert zu sein, schreibt Gigerenzer. Viel entscheidender sei es, mutig zu handeln. „Man braucht Mut, um einer ungewissen Zukunft zu begegnen, um sich gegen Experten zu behaupten und kritische Fragen zu stellen." So wie es der große Philosoph der Aufklärung, Immanuel Kant, schon vor über 200 Jahren in Königsberg formulierte, fordert auchGigerenzer: Sapere aude! Habe Mut, dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen! So souverän die Verbraucher beim Kauf eines Fernseher agieren, so gut stände es auch den Patienten an, bei Risiken oder Nebenwirkungen eben nicht nur die Packungsbeilage zu lesen und ihren Arzt oder Apotheker zu fragen, sondern selbst abzuwägen, ob sich eine Behandlung lohnt oder nicht.

Positive Antriebskräfte

Statt Risikovermeidung wäre in vielen Fällen Risikotoleranz gefragt, um nicht zu sagen: Unternehmerischer Mut! Es ist kein Zufall, dass der Begriff Risiko im 14. Jahrhundert einst von Kaufleuten, Bankiers und Versicherungen in den oberitalienischen Handelsstädten geprägt wurde. „Rischio" oder „Rischiare" meinte dort das Wagnis eines Handelsgeschäfts, beschreibt der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Herfried Münkler. Händler, die sich in unbekannte Gewässer vorwagten, gingen zwar das Risiko ein, Schiffbruch zu erleiden, wurden aber im Fall des Erfolgs mit Reichtum belohnt. Dies war die Geburtsstunde der rationalen Risikoabwägung, schreibt Münkler, der Startschuss für die Entwicklung einer„Kultur des Risikos". In dieser empfinden die Menschen das Unbekannte nicht als Bedrohung, sondern als eine Chance mit Aussicht auf Gewinn. So lautet auch Münklers Botschaft mit dem Blick ins Hier und Jetzt: Zu viel Sicherheitsdenken lähmt. Risikobereitschaft hingegen sei hingegen positive Antriebskraft und ein „gesellschaftlicher Jungbrunnen".

Doch diese Quelle des Fortschritts droht zu versiegen, warnt der Vorsitzende der Geschäftsleitung von Merck und Präsident des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI), Karl-Ludwig Kley. Ohne Fortschrittsbegeisterung könne Deutschland international nicht wettbewerbsfähig bleiben, schreibt er in seinem Buch „Deutschland braucht Chemie". Ohne Innovationsfreude seien auch keine Antworten auf Megatrends unserer Zeit zu finden: die Fragen der Energieversorgung zum Beispiel, der Ernährung und der Gesundheit. Durch intensive, wirtschaftlich riskante Forschung habe etwa die Krebs- und HIV-Behandlung in den vergangenen Jahren erhebliche Fortschritte erzielt. Heute hingegen, so beklagt Kley, herrsche hierzulande eine weit verbreitete Innovationsskepsis. Ob Transrapid, Handystrahlung oder der Ausbau der Stromnetze: „Immer wieder wird der Diskurs über neue Technologien eher vom Blick auf mögliche Gefahren dominiert als von einer Würdigung der Chancen."

Dieses Phänomen ist auch dem Gesundheitswesen nicht fremd. Seit Jahren torpedieren Kritiker die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte und verweisen auf angebliche Sicherheitsmängel. Da mögen sich IT-Sicherheitsexperten, Politiker und Datenschützer noch so wehren – die Online-Anwendungen stehen schon vor dem bundesweiten Roll-out im Ruch großer Unsicherheit. Nahezu jede noch so kleine IT-Sicherheitslücke nehmen Kritiker zum Anlass, das Telematik-Projekt grundsätzlich in Frage zu stellen.

Karl-Ludwig Kley plädiert für einen realistischen, weniger technologieskeptischen Umgang mit Risiken, „einen Umgang, der auf Fakten und Wissen beruht und nicht auf Emotionen oder Halbwissen". Die Abwägung, welches Risiko etwa in der Gentechnologie oder der Schiefergasförderung vertretbar ist, sei eine schwierige Diskussion. Die Rechnung „je mehr Verzicht, desto weniger Risiko" könne jedoch nicht aufgehen, warnt er. In der Wissenschaft bedeute Risiko auch, der Forschung Fehler zuzugestehen, so Kley „denn Fehler führen weiter." Ein Beispiel ist Sir Alexander Fleming, der zufällig einen Schimmelpilz in seinen Bakterienkulturen und damit das Penicillin entdeckte. „Um im internationalen Wettbewerb weiter bestehen zu können, brauchen wir mutige, an Fakten orientierte Entscheidungen und keinen Stillstand", so Kley.

Mutige Politiker gesucht

Risikokultur hängt in der Gesundheitswirtschaft nicht unwesentlich von politischen Vorgaben ab. Und hier machen die Erfahrungen der politischen Entscheidungsträger wenig Mut: Riskante, weil tiefgreifende Reformen erfahren bei Wahlen für gewöhnlich kaum Wertschätzung. Ohne Gerhard Schröders Agenda-Politik zum Beispiel stünde Deutschland nach Meinung vieler Deutschen heute nicht so gut da. Dennoch wurde Schröder nach Montagsdemos und Hartz-Protesten abgewählt. Regelmäßig fordern Experten, dass Kommunalpolitiker endlich den Mut aufbringen, überflüssige Kliniken zu schließen. Johann Fleschhut im Oberallgäu hat genau das getan, heute ist er nur noch Landrat a.D.

Der Kasseler Politikwissenschaftler Prof. Dr. Wolfgang Schroeder ist dennoch davon überzeugt, dass sich politischer Mut lohnt. „Ich glaube, dass die Politiker, die von den Bürgern etwas verlangen und mutig Ziele aufstellen, sich am Ende auch durchsetzen können, weil sie eine Idee davon haben, was die Herausforderungen sind, die der gegenwärtigen Gesellschaft aufgetragen sind. Und weil sie in der Lage sind, an die Potenziale der Gesellschaft zu appellieren und dieses Potenzial auch zu entfalten."

Dass Mut, Überzeugungskraft und rationale Abwägung bisweilen auch vom Wähler belohnt werden, zeigt wiederum die Umfrage der RV. Unmittelbar auf die Sorge um die eigene Gesundheit folgt die Angst vor überforderten Politikern. Und die bereiten den Deutschen sogar noch mehr Falten als der Terrorismus.

Autor

f&w führen und wirtschaften im Krankenhaus

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