Bibliomed Klinik-Stresstest

Alles anders

  • GesundheitsWirtschaft
  • Titel: Politik
  • 25.01.2017

Gesundheits Wirtschaft

Ausgabe 6/2016

Seite 8

Flüchtlingskrise und höhere Geburtenrate verändern die Prognosen über Fallzahlen im Krankenhaus. Im Bibliomed-Klinik-Stresstest verschwindet somit die dunkle Farbe, die beispielsweise eine sinkende Leistungsmenge in den Geburtshilfen signalisierte. Ein Blick in den Kreis Ostprignitz-Ruppin und nach Nordrhein-Westfalen. 

Viele Besucher staunen überrascht, wenn sie Berlin gen Norden oder Osten verlassen. Brandenburgs Alleen und Seen empfangen ihre Gäste mit einer klaren Botschaft: Mach mal langsam, genieß’ die Landschaft. Doch Brandenburg ist auch geteilt: einerseits schmucke Dörfer und Städtchen sowie die Perle Potsdam und der Speckgürtel um die dynamische Bundeshauptstadt, andererseits trostlose Dörfer, die gegen einen deutlich sichtbaren Bevölkerungsschwund kämpfen.

Wie das Land, so die Krankenhäuser. Lange Zeit waren die Prognosen für weite Teile Ostdeutschlands düster. Doch die Zeiten ändern sich, in Brandenburg wie in ganz Deutschland. Die These von Überkapazitäten in den Kliniken könnte schon bald der Vergangenheit angehören; zum Beispiel nimmt die Zahl der Geburten gerade zu.

Etwa 80 Kilometer nördlich von Berlin: Wer hier die nach Hamburg führende A24 verlässt, kommt in der malerischen Fontanestadt Neuruppin an, Kreisstadt des Landkreises Ostprignitz-Ruppin. Auswertungen des Bibliomed-Klinik-Stresstests für den Landkreis prognostizierten eigentlich dramatische Zahlen für die dortige Geburtshilfe. Bis 2025 war ein Rückgang der jährlichen Geburten in dem Landkreis um fast 40 Prozent zu erwarten (siehe linke Karte). „Die-se erste Analyse basierte auf den Destatis-Daten zur koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung aus dem Jahr 2009“, erklärt MEDIQON-Geschäftsführer Dr. Dirk Elmhorst. MEDIQON ist Partner der Bibliomed-Redaktion beim Klinik-Stresstest. Der Informationsspezialist hat das Analysetool zur Versorgungsforschung entwickelt. Abonnenten des Online-Portals BibliomedManager können on- line die Versorgungsstruktur selbst analysieren.

Unter bibliomedmanager.de/klinik-stresstest sind Szenarien für die Bedarfsentwicklung bis zum Jahr 2025 abrufbar. Ostprignitz-Ruppin steht für ganz Deutschland, besonders den Osten. Entvölkerung, lautet das Stichwort. Oder besser: lautete.

„Die hohe Zahl von Flüchtlingen und ein Anstieg der Geburtenrate von 1,4 auf 1,6 Kinder je Frau haben die Entwicklung ins Gegenteil gedreht“, erklärt Elmhorst. Statt Rückgang gibt es nun zumindest Stagnation (siehe linke Karte). „Den neuen Prognosen zufolge wird die Zahl der Geburten im Landkreis Ostprignitz-Ruppin im Jahr 2025 um ein Prozent höher liegen als 2014.“

Diese Erkenntnisse decken sich mit aktuellen Zahlen, könnten den künftigen Bedarf jedoch sogar unterschätzen. Denn auf Anfrage heißt es aus dem Kreiskrankenhaus in Neuruppin: „In diesem Jahr haben wir glücklicherweise so viele Geburten in unseren Kliniken wie noch nie seit der Wiedervereinigung.“

Was für die Ruppiner Kliniken zutrifft, gilt für ganz Deutschland. Auf Basis der Prognosedaten des Jahres 2009 wäre in der Bundesrepublik ein Rückgang der Geburten von sieben Prozent bis 2025 zu erwarten gewesen, sagt MEDIQON-Geschäftsführer Elmhorst. Die Karte der Nation war flächendeckend orange-rötlich gefärbt – sinkende Fallzahlen. Nun weist der Klinik-Stresstest zwar immer noch eine Reihe großer Flächen in dieser Farbe aus – in weiten Teilen Sachsens und Sachsen-Anhalts, Ostbayern, dem Saarland, im östlichen Mecklenburg-Vorpommern sowie in Teilen Hessens. Aber unterm Strich ist ein Fallwachstum von sieben Prozent zu erwarten.

Risiko für Herzpatienten

Was bei Geburten erfreulich ist, gibt bei Herzerkrankungen Anlass zur Sorge. Ein Anstieg von elf Prozent ist hier auf Basis der aktuellen Daten zu erwarten, im Landkreis Ostprignitz-Ruppin sogar von 13 Prozent. Dabei kann die Region bereits heute in diesem Leistungsbereich als unterversorgt gelten, zumindest auf Basis der Datenauswertung im Bibliomed-Klinik-Stresstest. Zwar ist in allen Postleitzahl-Bezirken des Landkreises ein Krankenhausstandort innerhalb von 30 Minuten zu erreichen, wie unter dem Reiter „Auswahl Erkrankung“ auf bibliomedmanager.de/klinik-stress test deutlich wird. Doch: Die Fahrt zur nächsten Klinik mit einem Herzkatheterlabor – entscheidend für die Überlebenschancen des Patienten – dauert in zwei Postleitzahl-Bezirken länger als 30 Minuten.

Vor Ort sieht man durchaus Handlungsbedarf: „Wir werden den Bereich Kardiologie angesichts der demografischen Entwicklung ausbauen“, sagt Dr. Matthias Voth, Ärztlicher Direktor und Geschäftsführer der Ruppiner Kliniken. Die Ruppiner Kliniken hätten am Standort in der Kreisstadt Neuruppin zwei Herzkatheterlabore. Aus Voths Sicht ist das aber derzeit ausreichend für die Versorgung im Landkreis.

Was die Fahrtzeiten anbelangt: Voth verweist darauf, dass entscheidend für eine gute Versorgung nicht nur die im Modell errechnete Fahrtzeit, sondern die Effizienz des Rettungswesens und dessen Fähigkeit sei, den Patienten rasch ins Krankenhaus zu bringen. Da zu den Neuruppiner Kliniken auch der Rettungsdienst im Landkreis gehöre, sei dies ein wesentlicher Faktor.

Die Behörden für die Krankenhausplanung stehen in allen Bundesländern vor mehreren Herausforderungen: So gilt es unter anderem, eine effiziente Versorgung zu schaffen, vernetzt und qualitativ hochwertig, weshalb kleine Krankenhäuser von Krankenkassen und medizinischen Fachgesellschaften zunehmend als nicht leistungsfähig kritisiert werden.

Dr. Wulf-Dietrich Leber, Abteilungsleiter beim Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-SV), zieht seit vielen Jahren auf dem Nationalen DRG-Forum im März in Berlin in seinem die anwesenden Krankenhausmanager meist provozierenden, aber doch auch Erkenntnis stiftenden Vortrag den Vergleich zwischen NRW und den Niederlanden. Bei nahezu gleicher Be- völkerungszahl (Niederlande 16,7 Millionen Einwohner, NRW 17,9 Millionen) habe NRW 401 Krankenhäuser, das Nachbarland hingegen komme mit nur 132 Standorten aus. „Strukturbereinigung einleiten“, fordert Leber folglich.

Doch in Deutschland will kaum jemand wirklich Strukturen wie in Dänemark. Dort übernehmen wenige zentral geplante Großkrankenhäuser die Versorgung. Das führt zwar zu hohen Skaleneffekten, schließt aber Wahlfreiheit für die Patienten aus.

Neben Effizienz und Wahlfreiheit müssen Politik und Klinikmanagement Betten und Kapazitäten angesichts der demografischen Entwicklung sinnvoll für die Zukunft planen. Demografie bedeutet dabei nicht nur eine per se älter werdende Gesellschaft, sondern auch eine verstärkte Konzentration in wachstumsstarken, hippen Ballungsgebieten.

Auch hier lohnt der Blick nach NRW. Zwar zeigt das bevölkerungsstärkste Bundesland auf Basis der aktuellsten Bevölkerungsprognose fast flächendeckend steigende Fallzahlen in den Krankenhäusern bis 2025. Aber die Dynamik im gesamten Bundesland ist höchst unterschiedlich. So sind sogar in einigen Regionen sinkende Fallzahlen zu erwarten, im Märkischen Kreis (– 3,1 Prozent) und im Hochsauerlandkreis (– 1 Prozent) sowie in den Städten Hagen (– 2 Prozent), Bochum (– 0,3 Prozent) und Remscheid (– 2,2 Prozent). Andere Städte weisen stagnierende oder nur leicht wachsende Fallzahlen auf. Das gilt vor allem für die Städte des Ruhrgebiets wie Duisburg (0,1 Prozent), Gelsenkirchen (1,4 Prozent) oder Essen (2,4 Prozent). Ganz anders die Situation in den großen Städten am Rhein: Düsseldorf, Köln und Bonn weisen mit einem zu erwartenden Plus von 7,5, 10,8 und 9,8 Prozent eine sehr hohe Dynamik aus.

Weniger Bedarf an Psychiatrie

Entscheidend ist auch hier der Blick auf die Leistungsbereiche. So werden den MEDIQON-Daten zufolge die Fallzahlen in psychiatrischen Einrichtungen in NRW insgesamt um fünf Prozent schrumpfen. Wählt man im Klinik-Stresstest diesen Erkrankungsbereich aus, zeigt sich für NRW fast flächendeckend ein Rückgang, trotz der älter werdenden Bevölkerung – Ausnahme: Köln, Bonn und Düsseldorf.

„Psychiatrische Erkrankungen werden heute vor allem in der mittleren Lebensspanne stationär behandelt. Wenn der Anteil der Bevölkerung in diesem Alter sinkt, ergibt sich rein rechnerisch ein Rückgang des Bedarfs in diesem Leistungsbereich“, erklärt Elmhorst. Wie aber reagiert die Krankenhausplanung in NRW auf die sich verändernden Rahmenbedingungen? Bisher wenig konkret. Auf Anfrage teilte ein Sprecher des Gesundheitsministeriums mit: „In NRW werden bereits seit Jahren Demografiegesichtspunkte bei der Krankenhausplanung berücksichtigt.“ So habe man 2013 ein neues Geriatrie-Konzept eingeführt und baue Kapazitäten auf.

Allerdings schafft NRW nach eigenen Angaben auch in genau jenem Bereich mehr Betten, für den außer in den genannten Rhein-Metropolen in NRW eher rückläufige Kapazitäten zu erwarten sind, nämlich der Psychiatrie. „Dieser Bereich ist allerdings unterm Strich schwierig zu prognostizieren, da psychiatrische Erkrankungen unabhängig von der Bevölkerungsentwicklung in der Vergangenheit kontinuierlich gestiegen sind. Eine reine Projektion der geschlechts- und altersspezifischen heutigen Inanspruchnahmeraten auf die für 2025 geschätzte Bevölkerung ist insofern kritisch zu betrachten“, gesteht Elmhorst zu. Das NRW-Gesundheitsministerium hebt auf Anfrage auch genau diesen Bereich besonders hervor, ebenso wie die Neurologie. Auch für diesen Bereich färbt sich die NRW-Landkarte im Klinik-Stresstest in weiten Teilen tiefblau und signalisiert damit deutlich steigende Bedarfe.

In anderen Bereichen will das Haus von Ministerin Barbara Steffens (Bündnis 90/Die Grünen) Kapazitäten abbauen, obwohl die Bedarfe wachsen werden. Der Sprecher verweist für die Bereiche Augenheilkunde, Hals-Nasen-Ohren-Krankheiten oder die Strahlentherapie jedoch auf „zunehmend ambulante Operations- und Behandlungsmöglichkeiten“.

Doch wie genau soll dieser Umbau erfolgen? Das Ministerium stellt fest: „Die in etlichen Regionen vergleichsweise hohe Krankenhausdichte in NRW ermöglicht einerseits eine gute Versorgung, andererseits kann sie aber auch zu Konkurrenz um die Beschäftigten und Fehlsteuerungen führen.“ Für die Patienten sei es besser, wenn Krankenhäuser einer Region sich vernetzten, sich jeder auf andere fachliche Schwerpunkte konzentriere und nicht jedes Haus alles anbiete. „Zu oft haben wir in Ballungsräumen noch ein Nebeneinander gleichartiger Therapien und Fachgebiete anstelle einer Konzentration auf die jeweiligen Stärken“, heißt es aus dem Ministerium selbstkritisch. Das führe zu Ineffizienzen sowohl auf der Kosten- und Erlösseite als auch in puncto Qualität.

NRW will Abbau von Überkapazitäten

Ministerin Steffens verweist auf Anfrage auf die insgesamt 210 Millionen Euro an Fördermitteln für NRW aus dem Krankenhaus-Strukturfonds: „Wir brauchen einen Umbau der Krankenhauslandschaft, damit wir auch in Zukunft noch gut versorgt werden können.“ Strukturen müssten sich ändern, weil es künftig deutlich mehr ältere Menschen mit einem steigenden sowie sich verändernden Versorgungsbedarf geben werde, während zugleich der Anteil von Personen im erwerbstätigen Alter sinke. „Wir werben dafür, dass Krankenhäuser sich intensiver untereinander abstimmen, Überkapazitäten abbauen und sich im Wege der Kooperation jeweils möglichst auf ihre Stärken konzentrieren“, sagt Steffens.

Ob Werben ausreicht? Der demografische Wandel dürfte sich trotz Zuwanderung und etwas höherer Geburtenrate beschleunigen. Für das Jahr 2030 prophezeit Destatis einen Rückgang der Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter (20- bis 64-Jährige) um rund fünf auf 44 bis 45 Millionen. Weniger Erwerbstätige werden mehr Senioren im Ruhestand finanzieren müssen. Das stellt nicht nur die Rentenpolitik, sondern auch das Gesundheitssystem vor enorme Herausforderungen. Von NRW bis Brandenburg gilt es, effiziente, sektorenübergreifende und am Bedarf orientierte ambulante und stationäre Strukturen aufzubauen. Die Politik muss sich dieser Herausforderung stellen.

Beide Karten zeigen die erwartete Veränderung der Geburtenzahl auf Landkreisebene im Jahr 2025 im Vergleich zu 2015. Die rechte Karte basiert auf der aktuellen Destatis-Bevölkerungsprognose. Die unterstellte Geburtenrate beträgt 1,6 pro Frau sowie eine erhöhte Zuwanderung. Links ist eine Geburtenrate von 1,4 unterstellt und eine Zuwanderung von unter 100.000 Personen.

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