Pflege

Das Feigenblatt

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  • 22.09.2025

f&w

Ausgabe 9/2025

Seite 839

Michael Löhr

Der Fachkräftemangel in der Pflege gilt als unumstößliche Wahrheit. Doch stimmt das wirklich? Oft seien es die Arbeitsbedingungen, die Pflegekräfte abschrecken, sagt Michael Löhr, – nicht der Mangel an Personal. Es sei Zeit, über Führung, Kultur und Verantwortung zu sprechen.

Es gibt Themen, die so oft gesagt werden, dass sie irgendwann niemand mehr hinterfragt. Die Erde ist rund. Kaffee macht wach. Und wir haben Fachkräftemangel in der Pflege. Punkt. Aus. Keine Diskussion. Oder doch?

In den vergangenen 25 Jahren habe ich in der psychiatrischen Pflege Nächte auf akuten Stationen verbracht, Frühdienste im Halbschlaf überlebt, Schichtpläne erstellt wie andere Sudoku-Rätsel, Student:innen ausgebildet – und heute versuche ich mich als Pflegedirektor an der Kunst, Systeme zu steuern, ohne dabei Menschen aus den Augen zu verlieren. Inzwischen wächst mein Zweifel an dem scheinbar unumstößlichen Glaubenssatz: „Wir haben einen Fachkräftemangel.“ Ist das wirklich so oder haben wir eher ein strukturelles Kommunikationsproblem? Und wer profitiert eigentlich vom Narrativ des Mangels?

Zahl der Pflegepersonen ist gestiegen

Ein Blick auf die Zahlen macht mich hellhörig. Laut dem Statistischen Bundesamt arbeiten so viele Menschen in der Pflege wie nie zuvor. Auch die Personalstatistiken der Krankenhäuser zeigen, dass die Zahl der Pflegepersonen gestiegen ist. Zugleich höre ich von jungen Kolleg:innen häufig den Satz: „So habe ich mir das nicht vorgestellt.“ Ich begegne Pflegefachpersonen, die in den Beruf zurückkehren möchten, aber eben nicht unter diesen Bedingungen. Vielleicht sollten wir also nicht immer fragen: „Wo sind die Pflegepersonen geblieben?“, sondern: „Warum kommen Sie nicht zu uns?“

Denn das Narrativ vom Fachkräftemangel ist ein hervorragendes Feigenblatt. Es verhüllt viel: ungünstige Dienstpläne, hierarchisches Denken, fehlende Entwicklungsmöglichkeiten oder eine schlechte Stimmung im Team. Und: Es befreit von Selbstreflexion. Dann liegt es nicht an mir. Es liegt am System, an der Politik oder Demografie. Doch diese Argumentation ist ebenso gefährlich wie wirksam. Sie bremst Veränderung. Sie lähmt Führung. Sie verhindert, dass wir ernsthaft über Verantwortung sprechen.

Loslassen und Vertrauen zentral fürs Management

Natürlich ist der Wettbewerb um Pflegepersonal hart. Der Pool ist nicht leer, aber das Wasser ist zu kalt. Es gibt genug Pflegepersonen, aber sie haben gelernt, sich nicht mehr ins kalte Wasser schubsen zu lassen. Zeit, über Arbeitsbedingungen zu sprechen: weniger über Gehälter oder Schichtzulagen und mehr über Sinn, Anerkennung, Führungsstile und Gestaltungsspielräume. Führung heißt, genau dort anzusetzen. Und ja, das ist anstrengend. Es bedeutet, Ideen zu ermöglichen, statt sie abzusagen. Loslassen und Vertrauen sind zentrale Botschaften des Managements. Und manchmal muss man auch „Nein“ sagen.

Ich plädiere dafür, das Feigenblatt beiseitezulegen. Nicht, um nackt dazustehen, sondern um endlich ehrlich zu sein. Wir haben nicht nur ein Personalproblem, wir haben ein Haltungsproblem. Und das ist behandelbar. So wie wir in der psychiatrischen Pflege lernen, nicht nur die Symptome, sondern den Menschen dahinter zu sehen, sollten wir als Führungskräfte auch lernen, nicht nur auf Statistiken zu starren, sondern auf die Atmosphäre, die Kultur und das Klima in unseren Häusern. Denn dort entscheidet sich, ob Menschen bleiben – oder gehen.

Autor

f&w führen und wirtschaften im Krankenhaus

Die Fachzeitschrift für das Management im Krankenhaus

Erscheinungsweise: monatlich

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