Liebe Leser,
seit 184 Jahren sitzt Jeremy Bentham hinter einer Glasvitrine auf seinem Stuhl im University College in London. Der Vater des Utilitarismus hatte verfügt, nach seinem Tod „auto-ikonisiert" zu werden. Berühmt wurde sein ethisches Leitprinzip „des größten Glücks der größten Zahl" in der Bevölkerung (greatest-happiness-principle). Doch wie lässt sich messen, ob die Menschen glücklich sind? Bentham führte als einer der Ersten das Prinzip des Nutzens in die Wirtschaftswissenschaft ein. Im 19. Jahrhundert träumten er und viele andere Sozialwissenschaftler von einer Maschine, mit der sich eines Tages Nutzen tatsächlich messen lassen würde. Ein Wissenschaftler könnte dann einfach Elektroden an den Kopf eines Menschen anschließen und ablesen, wie „glücklich" dieser sei. Ungefähr so: Person XY ist gerade bei 95 Prozent. Was fehlt, um sie auf 100 zu bekommen?
Die Maschine gibt es bisher nicht. Ökonomen ringen seit zwei Jahrhunderten damit, Nutzen zu bewerten. Sie können nicht messen, was doch allen mikroökonomischen Modellen zugrunde liegt. Sie behelfen sich wie folgt: Wenn sie etwa quantifizieren wollen, wie viel Nutzen ein Gut einer Person stiftet, dann fragen sie, wie viel diese bereit ist zu zahlen. Zahlungsbereitschaft ist gleich Nutzen. Punkt.
Leider funktioniert dieser Ansatz im Gesundheitswesen nur beschränkt, schon weil die Nutzer die Güter und Dienstleistungen nicht selbst bezahlen, sondern in der Regel ihre Versicherung. Stehen mehrere Optionen für eine Therapie zur Auswahl, fällt dem Laien eine Bewertung schwer. Dazu kommt: Der Millionär bringt für viele Leistungen eine höhere Zahlungsbereitschaft auf als der Sozialhilfeempfänger. Doch alle sollen gleichen Zugang zu moderner Medizin haben, so zumindest lautet bisher der gesellschaftliche Konsens.
Die Politik bemüht sich deshalb um eine objektive Identifikation des Nutzens. Mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (Amnog) aus dem Jahr 2011 wurde die frühe Nutzenbewertung neuer Medikamente eingeführt. Nun folgen Medizinprodukte.
Dabei adressiert der Ansatz in beiden Fällen nicht Nutzen im klassisch-sozialwissenschaftlichen Sinn, sondern die Frage, ob ein Präparat, ein Produkt oder eine Methode unter Beachtung etwa von Nebenwirkungen besser wirkt als herkömmliche Verfahren. Der subjektiv-individuelle Nutzen – Kern der ökonomischen Diskussion – wird nicht thematisiert.
Für die Pharmaindustrie war das Amnog eine Revolution. Nun steht die Medizinprodukteindustrie vor einer vergleichbaren Regulierungsrevolution, zumal auch die EU-Ebene die Regeln für die Zulassung neuer Produkte verschärft.
Dazu kommen der digitale Umsturz und ein sich rasant verändernder ökonomischer Rahmen. „Software frisst die Welt", prophezeite der Internetpionier Marc Andreessen (Gründer des ersten Webbrowsers Netscape) bereits vor fünf Jahren. Zugleich fressen große Konzerne und globale Investmentfonds klassische Produktionsfirmen. Nur so können sie angesichts der von den globalen Zentralbanken induzierten ultraniedrigen Zinsen ihren Hunger nach einigermaßen auskömmlicher Rendite stillen. Die mittelständisch geprägte deutsche Med-Tech-Branche – Rückgrat der deutschen Wirtschaft – erlebt zeitgleich drei Revolutionen. Doch sie hat die Herausforderung angenommen. Sie hat das Zeug, auch in diesen Zeiten zu bestehen.