Die bestehenden Regulierungspfade für Behandlungsmethoden und Medizinprodukte sind eher statisch. Die adaptive Nutzenbewertung als alternativer Ansatz verspricht mehr Flexibilität. Über die Vorteile der systematischen Abwägung von Sicherheit, Patientennutzen und Marktzugang.
Bei der Bewertung von innovativen Medizinprodukten stehen die Regulierungsbehörden vor der Abwägung eines zeitnahen Zugangs gegenüber einer hohen Sicherheit innovativer Technologien. Derzeit wird versucht, mit klinischen Studien den Nutzen einer Neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode darzulegen und eine Zulassung für ein möglichst weitreichendes Patientenklientel zu erreichen. Dieser Prozess kann sehr zeitintensiv sein. Während berechtigterweise die Regierungsbehörden mit großer Skepsis die Unsicherheiten der klinischen Effekte betrachten, ist es jedoch vorstellbar, dass spezifische Patientenpopulationen für einen erwünschten klinischen Effekt bereit sind, ein hohes Risiko in Kauf zu nehmen. Vor allem dann, wenn Patienten mit einer hohen Krankheitslast oder einem potenziell lebensbedrohlichen Ausgang konfrontiert werden.
Zunehmend kommt man zu der Erkenntnis, dass dichotome Zulassungs- oder Erstattungsentscheidungen hinsichtlich des wirtschaftlich und medizinisch Notwendigen auf einer vereinfachten Betrachtung von Evidenz und Unsicherheit basieren. Entscheidungsprozesse sollten der kontinuierlichen Erhebung der klinischen Evidenz angepasst und nicht zu einem arbiträren Zeitpunkt entweder positiv oder negativ entschieden werden. Diskutiert werden adaptive Entscheidungsprozesse zur Abwägung von Nutzen und Schaden.
Diese Forderung resultiert in der bedingten Zulassung oder Erstattung, das heißt, dass eine möglichst schnelle Entscheidung für bestimmte Patientengruppen an weitere Bedingungen geknüpft ist. Eine über die Zeit zunehmende Sicherheit über die Effektivität und Effizienz schafft Transparenz für alle Beteiligten. Adaptive Ansätze der Bewertung berücksichtigen progressive Lerneffekte der Leistungserbringer sowie deren erwartete Auswirkung auf den Schaden und Nutzen.
Die adaptive Nutzenbewertung ermöglicht einen dynamischen Prozess der kontinuierlichen Informationsbeschaffung für die Abwägung von Nutzen und Schaden bei einem möglichst schnellen Zugang zu innovativen Behandlungsmethoden und Medizinprodukten. In einem stufenweisen Prozess der Informationsgewinnung könnte eine Balance zwischen schnellem Zugang für Patienten einerseits und adäquater Informationsentwicklung für Nutzen und Risiken andererseits erreicht werden. Die Idee der adaptiven Nutzenbewertung basiert auf einem zeitlich dynamischen Prozess der Entscheidungsfindung über den gesamten Produktlebenszyklus. Internationale Erfahrungen mit diesem Ansatz bei der Zulassung werden zunehmend diskutiert.
Beschleunigte und bedingte Zulassung
Das Konzept der adaptiven Entscheidung ist nicht neu. Es gibt eine Reihe von flexiblen regulativen Ansätzen, die von den Aufsichtsbehörden, HTA-Institutionen und Kostenträgern eingeführt wurden. Auf regulatorischer Ebene werden vor allem die „beschleunigte Zulassung", „adaptive Lizenzierung", „Medicine's Adaptive Pathways to Patients", „gestaffelte Zulassung", „progressive Zulassung" oder der „Lebensdauer-Ansatz" für die Lizenzierung und die Erstattungsfähigkeit diskutiert.
Alle diese Begriffe beschreiben ähnliche Entscheidungsprozesse, vorrangig in Bezug auf Arzneimittel. So wird ein adaptiver Lizenzierungsansatz im Health Canada's Regulatory Roadmap for Health Products and Food beschrieben. Weitere Beispiele sind die beschleunigte Zulassung in den USA und die bedingte Zulassung in der EU sowie weitere Regulierungsinstrumente für Technologien, wo der potenzielle Nutzen des frühen Zugangs die potenziellen Risiken überwiegt.
Obwohl das Konzept der bedingten Zulassung in der EU vorerst mit „Adaptive Lizenzierung" bezeichnet wurde, wird diskutiert, dass neben der Lizenzierung/Zulassung das gesamte Kontinuum über die klinische Entwicklung, Erstattungsfähigkeit, Inanspruchnahme in der klinischen Praxis und die Überwachung der Behandlungsergebnisse betrachtet werden sollte. Wie bei einem Lebenszyklus-Ansatz sollte der Prozess in prospektiver und umfassender Weise geplant werden. Daher empfiehlt die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) neuerdings die Begriffe „adaptive Pfade der Medizin zu Patienten" („Medicine's Adaptive Pathways to Patients") oder „adaptive Pfade" („adaptive pathways"). Unter dem Begriff der adaptiven Pfade wird die Restrukturierung des Entwicklungsprogrammes und der regulatorischen Prozesse verstanden. Die Kostenübernahme und die Bewertung des therapeutischen Wertes werden nach der Zulassung wieder aufgegriffen, und basierend auf den erhobenen Wirksamkeits- und Sicherheitsdaten wird die Patientenpopulation verbreitert oder beschränkt.
In der Diskussion ergeben sich drei Ansätze bei der Implementierung adaptiver Entscheidungsprozesse:
dringender klinischer Handlungsbedarf für bisher noch nicht versorgte, aber risikobereite Patienten,
kontinuierliche Reduktion des Grades der Unsicherheit durch prospektive vereinbarte Studienpläne,
Erprobung in spezialisierten Zentren und Evidenzgenerierung/Erprobung in flexiblen Stufen.
Die Entscheider über Zulassung und Erstattung sind bereits heute mit Unsicherheiten hinsichtlich der Evidenz konfrontiert. Daher haben Kostenträger Bedenken, dass der Ansatz der adaptiven Nutzenbewertung zu kostspieligen Vergütungsschemata führen kann.
Konkret heißt das: Die frühzeitige Zulassung führt zu steigenden Ausgaben, da Unsicherheit toleriert und unwirksame Produkte zugelassen werden.
Adaptiver versus dynamischer Ansatz
Folgende Argumente sprechen demnach für eine Flexibilisierung der Zugangsregelungen:
Bedarfsorientierte Zugangspolitik: Der adaptive Ansatz wägt zwischen der Situation der Patienten, der potenziellen Wirksamkeit und der Sicherheit der Behandlung ab. In der Praxis erfordert dies, dass Entscheidungsträger und Hersteller die Entscheidungsprozesse und die zugrunde liegende Nutzenbewertung offenlegen und sich der Risiken beziehungsweise verbleibenden Unsicherheiten bewusst sind. In der Regel ist es schwierig, langfristige Auswirkungen einer Neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode mit Medizinprodukten frühzeitig zu quantifizieren. Jedoch kann die Entscheidung darüber, ob eine neue Behandlung auf Basis einer kleineren Datengrundlage anerkannt wird, zum Beispiel durch außergewöhnliche Ansprechraten eines Surrogatendpunktes in kleineren Patientenkohorten beeinflusst werden.
Dynamische Abwägungen von Nutzen und Schaden: Bei erfolgreicher Zulassung/Erstattung sollte der erwartete Nutzen die erwarteten Risiken für eine vorab definierte Patientengruppe überwiegen. Die Frage ist, ob die Unsicherheiten bezüglich der Nutzen- und Risikoeinschätzungen bereits zum Zeitpunkt der initialen Zulassungs- und Kostenübernahmeentscheidung zu einem bestimmten Evidenzstandard beseitigt sein müssen. Denkbar ist, dass eine zeitlich befristete positive Entscheidung auf der Grundlage einer gut begründeten und transparent kommunizierten „Abwägung der Wahrscheinlichkeiten mit kontinuierlicher Überwachung" akzeptabel ist.
Schrittweiser Abbau der Unsicherheit: Zentrales Element der adaptiven Nutzenbewertung ist die schrittweise Verringerung der Unsicherheit durch Nachweiserhebungspläne und Zeiträume, die im Voraus festgelegt werden. Darüber hinaus betont dieser Weg ein straffes Management der Inanspruchnahme, die Überwachung der Versorgung und die Fähigkeit und politische Bereitschaft, die Nutzung einzuschränken oder zu widerrufen, wenn ein Produkt das erwartete Nutzen-Risiko-Verhältnis nicht erfüllt.
Berücksichtigung von Subgruppen: Ein weiteres entscheidendes Merkmal ist die wachsende Erkenntnis darüber, dass fast jede Krankheit oder klinische Indikation aus mehreren Subgruppen besteht.
Daher wird die ethische Frage nach dem Kompromiss zwischen den Interessen künftiger und gegenwärtiger Patienten für jede individuelle Subgruppe unterschiedlich beantwortet werden müssen. Eine akzeptable Unsicherheit für eine Subgruppe ist möglicherweise für andere inakzeptabel. Eine Entscheidung hängt somit von der Krankheitslast der Patientengruppe, dem potenziellen Nutzen und den erklärten Patientenpräferenzen ab. Handlungsleitend ist die Akzeptanz der Unsicherheit im Austausch mit dem Zugang zu neuen Therapien.
Bedenken bei Arzneimitteln
In der Diskussion werden von verschiedenen Seiten daneben Argumente diskutiert, die das Konzept der adaptiven Nutzenbewertung infrage stellen. Allerdings beziehen sich diese Argumente primär auf die adaptiven Ansätze im Arzneimittelbereich. Daher müssen einige Besonderheiten dieses Marktes berücksichtigt werden. Zu den potenziellen Nachteilen zählen unter anderem:
Sinkende Patientensicherheit: Im Vergleich zu den bestehenden Voraussetzungen für die Marktzulassung werden Technologien im Rahmen der adaptiven Lizenzierung zu einem früheren Zeitpunkt zugelassen, zu dem eine unvollständige Datengrundlage gegeben ist. Damit steigt nach Ansicht einiger Experten das Risiko der Zulassung von Technologien, die unwirksam oder nicht sicher sind.
Verzicht auf klinische Studien: Es wird argumentiert, dass durch die frühe Zulassung die Beweislast für die Unbedenklichkeit der Technologien von der Prä- auf die Postmarketingphase verlagert wird und nicht sichergestellt wird, ob und in welcher Form nach der Marktzulassung die erforderlichen Daten erhoben werden können.
Mangelnde Information der Patienten: Im Rahmen der adaptiven Lizenzierung kommen die innovativen Technologien früher in die Regelversorgung. Den Patienten sei dadurch nicht immer bewusst, dass sie in der Versorgungspraxis Teil von weiteren Studien sind.
Finanzielle Belastung des Gesundheitssystems: Durch den früheren Marktzugang im Rahmen der adaptiven Lizenzierung werden die Technologien frühzeitig Teil der Regelversorgung. Durch den früheren Marktzugang und die Durchführung von Studien in der Postmarketingphase verschiebt sich die Finanzierungsverantwortung.
Zudem wird von einigen Kritikern befürchtet, dass durch das Konzept der adaptiven Lizenzierung besonders Technologien für Nischenindikationen angesprochen werden. Die Unternehmen würden eine beschleunigte Zulassung hochpreisiger Technologien für kleine Populationen mit Indikationen anstreben, die als seltene Erkrankungen definiert wurden. Einige Experten vertreten daher die Meinung, dass eine adaptive Lizenzierung die Konstruktion von medizinischen Versorgungslücken und damit die Zulassung unzureichend erforschter, hochpreisiger „niche buster" fördert.
Vorteile des früheren Zugangs
Gegen diese Argumente spricht, dass das Konzept der adaptiven Lizenzierung beziehungsweise Nutzenbewertung vorsieht, dass nach der initialen Marktzulassung weitere Daten im Rahmen des Lifespan-Managements generiert werden und nach diesen Erkenntnissen zur Nutzen-Risiko-Bewertung die Zulassung sukzessive auf weitere Patientengruppen und/oder Therapiegebiete ausgeweitet wird. Gegen das explizite Argument der fehlenden Sicherheit spricht insbesondere bei Medizinprodukten, dass die Sicherheit und Funktionsfähigkeit der Produkte nicht im Rahmen der Bewertung, sondern bei der CE-Kennzeichnung überprüft werden.
Der frühere Zugang zu Technologien geht initial mit einer höheren Unsicherheit über den Nutzen und die Risiken einher. Jedoch ist diese Möglichkeit insbesondere für Patienten mit seltenen Krankheiten und einem hohen medizinischen Bedarf, für die es keine ausreichenden alternativen Behandlungen gibt, eine vielversprechende Option. Zudem ist das Argument, dass im Rahmen adaptiver Ansätze Technologien zugelassen werden, für die keine beziehungsweise nur minimale Anhaltspunkte für einen Nutzen gegeben sind, kritisch zu hinterfragen. Innovativen Methoden würden im Rahmen eines solchen zeitkritischen Entscheidungsprozesses zunächst auf Basis hinreichender Evidenz ein Nutzen oder Potenzial zuerkannt werden (analog der bereits verabschiedeten gesetzlichen Regelungen; einen ähnlichen Prozess beschreibt auch die neue Regelung des § 137h SGB V). Die EMA verzichtet in ihrem Konzept „Adaptive Licensing" auf den konfirmatorischen Nachweis des Nutzens durch randomisierte und kontrollierte Studien. Allerdings ist im Rahmen der adaptiven Lizenzierung vorgesehen, die Unsicherheit der Technologien durch Generierung von Evidenz nach der Zulassung zu verringern. Dazu bedarf es rechtlicher Voraussetzungen, um die Unternehmen dazu zu verpflichten. Die explizite Höhe des zusätzlichen Nutzens würde demnach über einen definierten Zeitraum mittels weiterführender Studien bestimmt. Zudem würden kleinere Patientengruppen mit hohem Handlungsbedarf in den Fokus rücken (es bleibt offen, inwieweit durch diese kleineren Populationen die Budgets belastet werden).
Dabei bleibt jedoch unbestritten, dass in diesem Verfahren sowohl die Patienten, Leistungserbringer, Hersteller als auch Aufsichtsbehörden bereit sein müssen, höhere Risiken und Unsicherheiten in Bezug auf den Nachweis von Wirksamkeit und Sicherheit zu akzeptieren.
Ausgehend vom Status quo, könnte die adaptive Nutzenbewertung auch einen Beitrag zur Verbesserung der Behandlungsqualität und Patientensicherheit leisten. Eine schnelle Zulassung von effektiven und effizienten Technologien ist nicht nur im Interesse der Patienten.
Auf europäischer Ebene hat die EMA erkannt, dass die bestehenden statischen Regulierungspfade den künftigen Anforderungen der Regulierungspraxis nicht gerecht werden. Ein vielversprechender Ansatz für einen schnellen Zugang zu innovativen Behandlungsmethoden und Medizinprodukten sind die von der EMA proklamierten „adaptiven Pfade". Unter dem Begriff der adaptiven Pfade werden das Entwicklungsprogramm und die regulatorischen Prozesse neu strukturiert, um die frühzeitige Zulassung und Erstattung einer neuen Technologie für eine begrenzte Population auf der Grundlage von ersten klinischen Studien zu ermöglichen. Unter bestimmten Voraussetzungen würden Studientypen geringerer Evidenzklasse für eine bedingte Zulassung ausreichen. Dabei muss jedoch auch beim Prozess der adaptiven Pfade ein bestimmtes Sicherheitsniveau eines Medizinprodukts initial gewährleistet sein.
Mehr Evidenz und mehr Varianten
Während dieser Entscheidungsprozesse wird die Patientenpopulation, basierend auf den erhobenen Wirksamkeits- und Sicherheitsdaten, verbreitert oder beschränkt. Zudem wird die Erstattung entsprechend der Ergebnisse angepasst. Künftig sollte diskutiert werden, ob dieser Ansatz auch an die Voraussetzungen der Nutzenbewertung von Neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden mit Medizinprodukten hoher Klassen angepasst werden kann. Es sollte erprobt werden, inwiefern eine adaptive Nutzenbewertung über den gesamten Produktlebenszyklus einer Methode angewendet werden kann.
Vor diesem Hintergrund kann festgehalten werden, dass eine adaptive Nutzenbewertung
nicht weniger, sondern mehr Evidenz bedeutet,
nicht weniger RCTs zur Folge hat, sondern vielmehr eine systematische Generierung von Evidenz über die Zeit,
nicht einen einzigen, alternativlosen Zugang beschreibt, sondern mehrere Varianten der Zulassung vorsieht.