Die Finanzierung der Krankenkassen steht vor dem Kollaps, und die Politik muss handeln. Doch der Streit um einzelne Instrumente bringt uns nicht weiter, unterstreicht Prof. Andreas Beivers in diesem "Orientierungswert".
Als Staatssekretär Tino Sorge seine ersten Ideen zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) präsentierte, führte dies zu einem großen medialen Echo. Seine Idee, dass künftig jede Kasse einen günstigeren Basistarif anbieten soll, der eine „gute Grundversorgung“ sicherstellt und zusätzliche Leistungen als optionale Zusatzpakete hinzubuchbar sind, ist ein Element des Kopfpauschalen-Modells der CDU/CSU, das bereits zu Beginn der 2000er-Jahre diskutiert wurde.
Basistarif und Kopfpauschale
Auch wenn schon in den 1980er-Jahren Bundestagsdebatten über die zukünftige Ausgestaltung der GKV stattfanden, begann eine ernstzunehmende Diskussion – wie auch die über eine Bürgerversicherung – erst in den 1990er-Jahren und wurde dann zwischen 2003 und 2005 besonders intensiv. Damals standen sich die Alternativmodelle Kopfpauschale und Bürgerversicherung gegenüber. Als Kompromiss kamen dann der heutige Gesundheitsfonds sowie der PKV-Basistarif heraus.
Seitdem ist nichts geschehen. Über 20 Jahre sind verflossen, ohne dass man sich konkrete Gedanken über ein Problem gemacht hat, das längst bekannt war und ist: die Tragfähigkeitsproblematik der GKV in Kombination mit dadurch steigenden Beitragssätzen und Lohnnebenkosten. Auch die Reformen auf der Ausgabenseite haben in den letzten Jahren kaum Früchte getragen – eher im Gegenteil. Daher ist es nun fünf vor zwölf.
GKV-Basistarife: gut und schlecht zugleich
Die „Finanzkommission Gesundheit“ von Bundesgesundheitsministerin Nina Warken soll es nun richten. Die Zeit drängt, und daher kann man der Kommission nur viel Erfolg wünschen. Doch zurück zum Vorschlag von Staatssekretär Sorge: Eine Bürgerversicherung hat er ausgeschlossen, gleichzeitig aber GKV-Basistarife ins Spiel gebracht. Das ist gut und schlecht zugleich. Denn große Reformmodelle wie die der Bürgerversicherung sind diskussionswürdig, benötigen jedoch breite Mehrheiten im Bundestag und sind im Detail – auch rechtlich – hochkomplex.
Hier hätte man bedeutend früher anfangen müssen – eine Chance, die man in den letzten 20 Jahren versäumt hat. Jetzt müssen aber zügig spürbare Effekte her.
Der „Offenbarungseid“ ist nicht mehr weit entfernt, betrachtet man unter anderem auch die Babyboomer-Kohorten, die in Bälde das Rentenalter erreichen. Natürlich können Diskussionen über die Frage, was die GKV zukünftig noch finanzieren soll – sprich Rationierungs- und Priorisierungsdebatten, was Teil des Leistungskatalogs ist – schnelle Effekte bringen. Warum ist diese verkürzte Sichtweise aber nicht nur klug?
Basisleistungen definieren
Es ist viel komplexer als gedacht, medizinisch wie auch gesellschaftlich zu definieren, was denn die angesprochenen „Basisleistungen“ sind – und vor allem: was nicht. Möchte man dies wirklich tun, bedarf es einer genauen, auch vom Ethikrat begleiteten Analyse. Modelle wie „Zahnmedizin raus aus dem Leistungskatalog“ oder „keine Hüft-Endoprothesen mehr über 80 Jahre“ sind nicht nur stumpf, sondern beinhalten auch sozialen Sprengstoff – und werden langfristig auch nicht helfen, um das Problem in den Griff zu bekommen.
Nimmt man einzelne Leistungsbereiche heraus und ändert ansonsten nicht substanziell Nachfrage- und Angebotsverhalten durch neue Anreize, wird das Ausgabenwachstum in den bestehenden Leistungsbereichen schnell dazu führen, dass wir wieder vor den gleichen Problemen stehen. Das zeigt auch die Reformhistorie, in der es bis dato noch nie wirklich gelungen ist, die Leistungsausgaben in Summe mittelfristig in den Griff zu bekommen. Auch wäre dies – mit Verlaub – keine sonderlich innovative Idee.
Vielmehr muss darüber nachgedacht werden, wie mit neuen Anreizen das Nachfrage- und Angebotsverhalten substanziell verändert werden kann. Das impliziert nachfrageseitig nicht nur neue Formen und Wahloptionen in den Versicherungsverträgen, die auch Steuerungsansätze enthalten, sondern angebotsseitig auch eine Neujustierung der Vergütungsanreize auf der Leistungserbringungsseite. Hier können regionale Gesundheitsbudgets, die keine mengenorientierten Anreize, sondern Anreize in Richtung Prävention und Ergebnisqualität (subjektiv wie objektiv) setzen, ein sinnvoller Weg sein.
Benefit der Patientensteuerung
Noch einmal zurück zur Nachfrageseite: Wie schon adressiert, können sich hier durch neue Wahloptionen des GKV-Versicherungsvertrags spürbare Veränderungen ergeben. So wäre es sinnvoll, den auch durch Nina Warken in Form des Primärarztsystems anvisierten Steuerungsgedanken so zu implementieren, dass er nicht nur Ressourcen lenkt, sondern auch die (Eigen-)Verantwortung der Versicherten stärkt und sogar in die Versicherungsverträge integriert werden kann. Patienten, die sich steuern lassen, erhalten dann günstigere Tarife als diejenigen, die nach wie vor den freien Direktzugang wünschen.
Jedoch ist hier bei der Ausgestaltung Vorsicht geboten, da in der GKV die Beitragssätze prozentual erhoben werden und es für all diejenigen, die mehr in das System einzahlen, ein Direktzugang besonders teuer werden würde, wohingegen für all diejenigen, die wenig bis nichts in das System einzahlen, die Möglichkeiten einer gänzlich freien Wahl quasi umsonst wären.
Patientensteuerung – auf keinen Fall als „zweitklassige Versorgung“
Daher kann man auch über einen inversen Weg nachdenken: Patientensteuerung ist der Normalfall, ein Opt-out kostet extra. Eines ist dabei aber ganz besonders wichtig: Patientensteuerung – wie beispielsweise ein Primärarztsystem – darf auf keinen Fall als „zweitklassige Versorgung“ dargestellt und umgesetzt werden. Ganz im Gegenteil: Eine effiziente und qualitativ hochwertige Steuerung von Patienten, auch über Sektorengrenzen hinweg, muss endlich mehr als Qualitätsmerkmal der Versorgung verstanden werden.
Patientensteuerung ist aber nur ein Element in der "gesundheitsökonomischen Trickkiste“. Weitere Elemente sind Eigenbeteiligung, Franchisen oder Versicherungsverträge mit und ohne Werkstattbindung, wie wir es aus der Kfz-Versicherung kennen. Aber auch aus der Verhaltensökonomie wissen wir: Es geht darum, durch kluge Anreize, die nicht immer monetärer Natur sein müssen, eine bedarfsgerechte Steuerung zu ermöglichen. Auch muss das Problem, dass häufig (Facharzt-)Termine von Patienten nicht wahrgenommen werden und so „Leerlaufkapazitäten“ entstehen – bei gleichzeitig immer längeren Wartezeiten – mit klugen Steuerungs- und Sanktionsmechanismen angegangen werden.
Gesundheitskommission unter Druck: Zeit für echte Innovationen
Auf alle Fälle muss es nun zügig gelingen, ein seit Jahrzehnten verschlepptes Thema so umzusetzen, dass es zeitnah Effekte hervorbringt – und dabei noch gesellschaftliche Akzeptanz erfährt. Das ist hochkomplex, aber aller Mühen wert: für die heute Gesunden wie Kranken, für die nachfolgenden Generationen wie auch für die Sicherung unserer Solidarität und Demokratie.