Herr Kommissar Andriukaitis, die EU-Kommission bemüht sich derzeit auf mehreren Feldern, den Binnenmarkt voranzutreiben. Wird es irgendwann einen europäischen Klinikmarkt geben, die freie Wahl von Krankenhäusern in der EU?
Gesundheitspolitik ist zunächst Sache der Mitgliedsstaaten, und die Systeme sind sehr unterschiedlich. In Deutschland haben Sie das Bismarck-Modell mit Krankenhäusern unterschiedlicher Träger – private, freigemeinnützige und kommunale sowie die landeseigenen Universitätsklinika. In Großbritannien oder den skandinavischen Ländern sind die Systeme stärker staatlich organisiert und steuerfinanziert. In Süd- und Osteuropa finden Sie wiederum andere Systeme. Es ist von daher schwierig, einen europäischen Krankenhausmarkt ohne ein einheitliches Gesundheitssystem in Europa zu schaffen, was derzeit aber niemand will. Die Stärke Europas speist sich ja gerade auch aus einem gewissen Wettbewerb der Systeme.
Aber sollte es einer deutschen Krankenkasse nicht möglich sein, einen Versorgungsvertrag mit einem Krankenhaus aus dem EU-Ausland zu schließen, beispielsweise auch auf dem Gebiet der Telemedizin?
Das sehe ich derzeit nur in sehr begrenztem Umfang. Es gibt die EU-Richtlinie zur grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung aus dem Jahr 2011. Patienten können sogenannte Nationale Kontaktpunkte aufsuchen, wenn sie an einer Krankheit leiden, deren Behandlung in einem anderen Mitgliedsstaat besser ist. Wir haben mittlerweile in allen EU-Ländern solche Kontaktpunkte. Diese informieren Patienten über ihre Rechte bei einer Behandlung in anderen Mitgliedsstaaten. Das Herkunftsland muss dann unter bestimmten Voraussetzungen die Kosten übernehmen. Krankenversicherungen können selbstverständlich grenzüberschreitend Versorgungsverträge mit Leistungserbringern schließen.
Ist dazu ein Vergleich der Qualität von Krankenhäusern auf europäischer Ebene nötig – Stichwort europäisch einheitliche Qualitätsindikatoren?
Ja, aber die EU hat keine Möglichkeit, Krankenhäuser EU-weit zu ranken. Was wir machen, zielt auf die Europäischen Referenznetzwerke für Kliniken (ERN). Wir haben Kriterien, nach denen wir Krankenhäuser auswählen, die dann Referenzzentrum für bestimmte Indikationen und so Teil der – größtenteils virtuellen – grenzüberschreitenden Versorgung werden können. Wir rufen Krankenhäuser in der gesamten EU dazu auf, sich für die Netzwerke zu bewerben. Im März dieses Jahres konnten wir die ersten 24 Netzwerke einrichten. Es beteiligten sich mehr als 900 hoch spezialisierte Abteilungen aus mehr als 300 Krankenhäusern in 26 Mitgliedstaaten. Die ERN befassen sich mit zahlreichen Themen, darunter Knochenschäden, Krebs im Kindesalter und Immunschwäche. Es geht vor allem auch darum, IT-Plattformen aufzubauen für den sicheren Austausch von Patientendaten und qualifizierte Fallbesprechungen. Die Zentren können dann die Leistungserbringer grenzüberschreitend beraten.
Sie haben den Wettbewerb der Gesundheitssysteme angesprochen. Welches System ist in Europa das beste?
Es wird auch hier kein Ranking geben. Aber die EU-Kommission kann im Rahmen des Europäischen Semesters jährlich für einzelne Mitgliedsstaaten länderspezifische Empfehlungen abgeben …
… die Teil des Europäischen Semesters sind, das als Konsequenz aus der Finanz- und Schuldenkrise entwickelt wurde und vor allem auf makroökonomische Faktoren wie Schuldenstand und Wirtschaftswachstum fokussiert.
Nicht ganz. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik ist in der Tat ein wichtiger Pfeiler, es gibt aber auch die im weiteren Sinne sozialpolitische Komponente, und das Gesundheitssystem ist in beiden ein Faktor. Zur Illustration: An insgesamt zehn Mitgliedsstaaten wandten wir uns in diesem Jahr unter anderem mit gesundheitspolitischen Empfehlungen.
Welche Rolle spielt der Gesundheitskommissar dabei?
Meine Aufgabe ist es, zuallererst unabhängig vom Europäischen Semester die Leistungsfähigkeit und Entwicklung der Gesundheitssysteme zu bewerten. Wir arbeiten gerade Stück für Stück an einem Assessment-Rahmen. Im vergangenen Jahr haben wir erstmals mit der OECD unseren Report „Health at a Glance in Europe“ veröffentlicht, in dem wir über den Stand der Gesundheitssysteme in der EU berichteten. Um bei Bedarf die Mitgliedsstaaten in ihren Reformen unterstützen zu können, erarbeiten wir einheitliche Kriterien auf EU-Ebene. Wir benötigen dabei ein Instrumentarium, das über die OECD-Daten hinausgeht. Die Frage der nachhaltigen Finanzierung ist ein Schwerpunkt, es geht aber auch um den Gesundheitszustand der Bevölkerung und die Frage der Widerstandsfähigkeit der Systeme etwa in wirtschaftlich schlechteren Zeiten. Vor allem aber steht auch die Frage des Zugangs zu Gesundheitsleistungen im Fokus. Außerdem geht es um Patientensicherheit, Wartezeiten und viele andere Fragen, nicht zuletzt die Frage der Sicherung von Fachkräften in den Gesundheitsberufen. Zunächst müssen wir die länderspezifischen Gegebenheiten im Detail verstehen, dann können gegebenenfalls auf Basis dieser Arbeit Empfehlungen im Europäischen Semester erfolgen.
Die Kommission hat ihre Vorschläge für die länderspezifischen Empfehlungen im Frühjahr veröffentlicht, diesmal allerdings ohne Bezug zum Gesundheitssystem. Wird das künftig anders werden?
Deutschland hat seit 2014 keine Empfehlung mehr zu seinem Gesundheitssystem erhalten. Zurzeit analysieren wir die Lage – in allen Politikfeldern und in allen Mitgliedsstaaten. Wer welche Empfehlungen erhält, wird erst im Frühjahr entschieden, und vor der offiziellen Veröffentlichung im Mai geben wir hierzu auch keine Hinweise oder Prognosen ab.
Sie erwähnten das Thema Patientensicherheit. Welche Rolle spielt das für die Kommission?
Wir adressieren das Thema in vielen verschiedenen EU-Maßnahmen. Konkrete Kriterien, welche Voraussetzungen etwa in Krankenhäusern vorliegen müssen, damit Patienten sicher versorgt werden, obliegen vor allem den medizinischen Fachgesellschaften, aber auch den Patientenorganisationen. Das ist keine Sache der EU-Kommission. Was wir in Brüssel forcieren können, ist die Zusammenarbeit verschiedener Organisationen auf europäischer Ebene. Wir fördern den Austausch. Die Zulassung von Arzneimitteln ist bereits heute EU-weit über die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) möglich.
Das führt zu einer anderen Frage, der Medizinprodukte-Direktive (MDR). Nach jahrelangem Hin und Her zwischen Parlament, nationalen Regierungen und der Kommission ist diese nun verabschiedet und tritt 2020 nach einer dreijährigen Übergangszeit in Kraft. Sind Sie zufrieden?
Ich bin mit der MDR sehr zufrieden.
Die Hersteller in Deutschland laufen noch immer Sturm. 69 Prozent sehen die MDR laut einer Umfrage ihres Bundesverband Medizintechnologie e.V. (BVMed) als größtes Hemmnis für ihre Entwicklung. Was sagen Sie dazu?
Welche Industrie ist nicht gegen mehr Regulierung? Nennen Sie mir ein Beispiel. Wir sind jetzt dabei, die Vorgaben mittels der nötigen Verordnungen zu konkretisieren.
Ist die MDR der Endpunkt der Regulierung von Medizinprodukten auf EU-Ebene oder planen Sie weitere Maßnahmen?
Es geht in einem weiteren Schritt darum festzulegen, was eigentlich eine Innovation ist, etwa unter medizinischen, technischen, rechtlichen und ökonomischen Bedingungen. Dazu versuchen wir die entscheidenden nationalen Akteure zusammenzubringen im Netzwerk für „Health Technology Assessment“ (HTA). Derzeit gibt es in der EU mehr als 50 Stellen, die Medikamente und Medizinprodukte unter solchen Bedingungen bewerten und damit mit entscheiden, ob Medizinprodukte in die Versorgung kommen.
In Deutschland beispielsweise das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG).
Deutschland hat insgesamt vier solcher Stellen. Jede Stelle arbeitet nach eigenen Kriterien. In der EU heißt das, ein Hersteller muss bis zu 50 unterschiedliche Anforderungen erfüllen und Anträge mehrfach in mehreren Sprachen erstellen, um in allen EU-Staaten Marktzugang zu erhalten. Das ist verrückt! Verstehen Sie mich nicht falsch: Wir wollen die Entscheidung, ob ein Medizinprodukt in die Versorgung kommt, auf der nationalen Ebene belassen. Aber ich halte gemeinsame Kriterien – etwa einheitliche Studiendesigns – für sehr sinnvoll. Es wird noch ein großer Kampf. Die Wissenschaftler machen viele Vorschläge. Die Industrie will nur technische Kriterien nach dem Motto: Wenn ein Produkt funktioniert, soll es in die Erstattung. Das ist ein zu enger Blick.
Inwiefern?
Es geht darum, Patientensicherheit, Innovationsfähigkeit und eine nachhaltige Finanzierbarkeit der Systeme zu sichern. Gerade Medizinprodukte werden immer teurer.
So wie ich es verstehe, ist die europäische Ebene nur für den Marktzugang zuständig. Preise und Erstattung sind Sache der Mitgliedsstaaten.
Das soll auch so bleiben. Wir kümmern uns nicht um Erstattung. Aber wir können helfen, Kosten zu kalkulieren. Wir bieten die Methoden, das Werkzeug. Die nationale Ebene kann dann entscheiden. Es geht um Evidenz. Künftig kann die Zahl der Behörden, die diese beurteilen, in der EU sinken. Vielleicht reicht irgendwann sogar eine einzige Behörde aus. Der Beginn liegt in einer einheitlichen Methodik.
Warum könnte man die Bewertung nicht gleich der EMA geben?
Fragen Sie mich das nicht. Ich bin EU-Kommissar. Es obliegt mir nicht, meine persönliche Sicht zu äußern. Wir diskutieren mit den nationalen Regierungen, wie wir ein besseres System hinbekommen.
Zur Methodik: Gerade die Krankenkassen setzen beim Nachweis von Evidenz fast ausschließlich auf randomisiert-kontrollierte Studien (RCT), den höchsten Grad der wissenschaftlichen Evidenz. Dagegen laufen die Hersteller Sturm. Wie sehen Sie das?
Ich bin kein Wissenschaftler. Ich lade alle Wissenschaftler des Planeten ein, eine wissenschaftlich fundierte Methodik zu präsentieren.