In Israel, der Start-up-Nation, macht sich eine vorausschauende Innovationspolitik ebenso bezahlt wie die konsequente Verzahnung von militärischer und ziviler Forschung. Die Krankenhäuser hingegen stecken in der Krise.
600 Ideen landen jährlich auf dem Tisch von Steve Rhodes. „Nur ein Prozent kommt durch“, sagt der CFO der Trendlines-Group. Trendlines ist einer von 18 staatlich lizensierten Inkubatoren in Israel. Dass diese bei kreativen Köpfen gefragt sind, hat gute Gründe, denn der israelische Staat macht mit den Start-ups einen Deal: Die öffentliche Hand schießt bis zu 740.000 Dollar zu, während der Inkubator etwa 130.000 Dollar investiert. Jedes Projekt ich risikoreich, aber wenn das Unternehmen Erfolg hat, erhält der Staat seinen Zuschuss mit Zinsen zurück.
Clevere Innovationspolitik wie diese ist ein Grund dafür, dass Israel heute als Start-up-Nation gefeiert wird. Stolz verweisen die Israelis darauf, dass nirgendwo sonst mehr VC-Kapital pro Kopf investiert wird – und das, obwohl es vor 30 Jahren keinen einzigen Risikokapitalfonds in Israel gab. Auch hier war es der Staat, der die Initiative ergriff und selbst die ersten Fonds gründete. Heute sind alle in privater Hand.
Milliarden für Israels Hightechfirmen
Kaum eine Firma von Rang und Namen lässt das kleine Land heute außen vor. Google, Samsung und Amazon gehen hier ebenso auf Einkaufstour wie McDonalds, Vimeo oder Stryker. Allein 2019 lag das Volumen für Übernahmen und öffentliche Aufkäufe bei 9,9 Milliarden US-Dollar, satte 102 Prozent mehr als im Vorjahr, rechnet PwC vor. Insgesamt wurden in 587 Geschäften für israelische Hightechfirmen im vergangenen Jahrzehnt über 70 Milliarden US-Dollar bezahlt. Berücksichtigt man Folgegeschäfte, haben die vergangenen zehn Jahre sogar 107,8 Milliarden Dollar eingebracht. Allein eine Milliarde US-Dollar ließ sich im Herbst Baring Private Equity Asia den Erwerb der Medtech-Firma Lumenis kosten. Medtronic zahlte ein Jahr zuvor 1,7 Milliarden für Mazor Robotics, das roboterassestierte OP-Technik entwickelt.
„Die Innovationskultur und Start-up-Szene ist sehr beeindruckend“, fasst Ekkehard Zimmer, Kaufmännischer Direktor des Universitätsklinikums Düsseldorf, seine Eindrücke von der Vordenkerreise zusammen, die der Bibliomed-Verlag für 20 Führungskräfte aus der Gesundheitswirtschaft organisiert hat. „Wie der Staat in der Startphase unterstützt, ist vorbildlich – ebenso die Unternehmerkultur, die man hier aufgebaut hat. Der Deal, dass der Staat im Erfolgsfall sein Geld zurückbekommt, macht es zu einem Gewinner-Gewinner-Spiel“, so Zimmer. Ähnlich sieht es Hendrik Pfahler, Leiter Direktionsstab am Universitätsklinikum in Basel. „Die Förderung des Staates ist beeindruckend. Wir lernten mit Israel ein Land kennen, bei dem der Erfindungsgeist praktisch alles durchzieht – auch aus der Erkenntnis heraus, dass man es muss.“
„Not macht erfinderisch. Israel war schon immer gezwungen, aus wenig mehr zu machen“, bestätigt Steve Rhodes. Das kleine rohstoffarme Land ist kaum größer als Hessen, die Hälfte davon ist Wüste. Trotzdem ist Israel landwirtschaftlicher Großproduzent – auch, weil es die Meerentsalzung und Tröpfchenbewässerung perfektioniert hat. „Das Land selbst ist praktisch ein Start-up“, sagt Grisha Alroi-Arloser. Der Geschäftsführer der Deutsch-Israelischen Außenhandelskammer in Tel Aviv unterstreicht, dass es vor allem die historischen Erfahrungen der Juden sowie die politische Konstellation im ungelösten Nahostkonflikt sind, die den Erfindungsreichtum der Israelis antreiben. „Seit der Staatsgründung befindet sich das Land in einem ständigen Kampf um seine Existenz. Gepaart mit der Angst, boykottiert zu werden, verlässt man sich auf niemanden“, sagt er.
Das Militär ist Eliten- und Entwicklungsschmiede
Das Militär hatte von Anfang an eine zentrale Rolle im jungen Staat. Heute ist es die Eliten- und Entwicklungsschmiede der Nation. Im breiten Konsens habe es Zugriff auf die Kinder, berichtet Alroi-Arloser. Mit 16 kommt ein erster Kontakt zustande, nach einem zweijährigen Auswahlverfahren beginnen die Besten ihren Dienst bei den Eliteeinheiten – nicht nur bei den waffentragenden, sondern auch bei den technologischen Einheiten. „Das sind die späteren Gründer von Start-ups, die im israelischen Silicon Valley und in den VC-Fonds Investitionsentscheidungen treffen“, so Alroi-Arloser. Das Militär forscht ständig an neuen Technologien. Neue Erkenntnisse aus beispielsweise der Bildgebung und Datennutzung werden konsequent in den zivilen Sektor überführt. Die im Militär gebildeten Netzwerke hielten oft ein Leben lang und machten es den Akteuren leicht, auch später zusammenzuarbeiten. „Diese Eliteförderung erinnert stark an das US-amerikanische Modell, wo man früh versucht, in der Schule die High-Potentials für eine militärische Laufbahn zu qualifizieren“, meint Pfahler.
Israel profitiert zudem von seiner Internationalität. Aus den 800.000 Einwohnern bei der Staatsgründung sind mittlerweile neun Millionen geworden – vor allem durch Zuwanderung. Entsprechend multinational sind Israels Start-ups aufgestellt. Drei von sieben Gründern sind im Ausland geboren, sagt Alroi-Arloser. Er wirbt für die besondere israelische Mentalität: „Geht nicht, gibt’s nicht! Es gibt immer eine Lösung! Du kannst sie finden, musst aber out-of-the-box denken, im Zweifel auch die zweitbeste Lösung akzeptieren!“ Auch Rhodes fasst es ähnlich zusammen: „Wir sind risikobereit und ein Land von Menschen, die den Mut haben, Entscheidungen zu treffen – und Fehler machen zu dürfen, wenn eine Technologie entwickelt wird.“
Daten für Forschung und Unternehmen
Nach Beispielen für diesen Spirit muss man im Gesundheitswesen nicht lange suchen. Während Deutschland noch um die Einführung der elektronischen Patientenakte ringt, ist diese in Israel bereits seit einem Vierteljahrhundert etabliert. Alle vier Health Maintenance Organizations (HMOs), die Krankenversicherer, arbeiten mit einheitlichen Patientenakten – und nutzen diese bereits ausgiebig für Datenanalysen und Patientenansprache (Interview mit Prof. Gabriel Chodick).
Die Regierung treibt auch diese Entwicklung weiter voran. 2018 wurde das Projekt „Psifas“ (Mosaik) ins Leben gerufen, das in Deutschland nicht nur Datenschützer auf die Barrikaden treiben würde: Denn damit werden alle Daten nahezu aller Israelis in einer zentralen Datenbank zusammengeführt. Dieser Pool, der Informationen zu Krebs, Autoimmunerkrankungen oder psychischen Störungen enthält, wird dann anonymisiert Forschern, Unternehmen und Start-ups zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt. In vielen Bereichen gilt in Israel das Opt-out-Prinzip, berichtet ein Forscher eines großen Krankenhaues. So sei es möglich, große Populationsdaten zu generieren. Inzwischen kombinieren die Israelis die elektronischen Patientenakten sogar mit genetischen Informationen.
„Der Umgang mit Daten ist hier ein komplett anderer“, sagt Dr. Axel Paeger, CEO der AMEOS-Klinika. „Diese Strukturen können es Israel ermöglichen, bei der Personalisierten Medizin eine führende Rolle einzunehmen.“ In Deutschland sei dies undenkbar, kommentiert auch Gerhard M. Sontheimer, Vorstandschef der Anregiomed in Ansbach. Ob er seine Patientendaten zur Verfügung stellen würde, wenn er dies könnte? „Wenn man mir schlüssig darlegen würde, dass sie sicher gespeichert werden: dann ja.“ Ein Restrisiko gebe es immer. „Am Ende ist es immer eine Frage der Abwägung“, so der Krankenhausgeschäftsführer.
Israels Krankenhäuser sind voll
Als Rahmensetzer für Forschung, Entwicklung und Wirtschaft weiß der israelische Staat zu überzeugen. Problematischer hingegen ist seine Rolle im eigenen Medizinbetrieb. Zwar zeigt das israelische Gesundheitssystem im internationalen Vergleich gute Ergebnisse. Aber: „Die allgemeine Versorgung in Israel befindet sich momentan auf dem Niveau eines Drittweltlandes“, sagt Alroi-Arloser. Der Druck sei groß, die Arbeitsbedingungen seien schlecht, mit einem Platz auf dem Flur sei man bisweilen gut bedient. Offiziell melden Großkrankenhäuser knapp unter 100 Prozent Auslastung. Tatsächlich sind 110 oder 120 Prozent normal, berichten Experten vor Ort. So ist auch in der Notaufnahme des Rambam Pragmatismus gefragt: Die Behandlungsboxen sind mit Tüchern abgetrennt, die Kapazität wurde so verdoppelt. Ein weiteres Beispiel: Das Auguste-Viktoria-Krankenhaus in Ostjerusalem, das für die Versorgung der Palästinenser zuständig ist, schickt Patienten nach der Bestrahlung in Hotels, weil alle Betten belegt sind.
Die durchschnittliche Verweildauer liegt in Israel mit 5,1 Tagen deutlich unter der Deutschlands (7,5 Tage), ebenso wie die Zahl der Betten (Deutschland: 6 auf 1.000 Einwohner; Israel: 2,2 auf 1.000 Einwohner). So wenig (Patienten) wie möglich und so schnell wie möglich ist die Devise. „Das Gesundheitssystem konnte mit dem Bevölkerungswachstum nicht mithalten“, bilanziert Alroi-Arloser. Manuel Berger, Geschäftsführer des Beratungsunternehmens Consus, kann dem trotz aller Schwierigkeiten auch etwas Positives abgewinnen. „Durch den Druck auf die stationäre Versorgung wurden ambulante Angebote in der Kommune geschaffen, die auf in unserem System sinnvoll wären. Wir sehen, wie wir bei der Verweildauer in Deutschland handeln müssen, um das System finanzierbar zu halten.“
Der größte Anbieter von stationären Leistungen ist der Staat selbst, dazu kommen Kliniken, die die vier MHOs betreiben. Private Kliniken spielen hingegen keine vergleichbare Rolle wie in Deutschland. Die starke Dominanz des Staats, der Regulierer und Finanzier aller Krankenhäuser, zugleich aber selber Anbieter ist, ist nach Einschätzung der Experten des Taub Centers aus Tel Aviv eine der wesentlichen Ursachen für viele Ineffizienzen im System. Wie in Deutschland führt auch Israel momentan eine Debatte über zu große Kliniken in den Ballungszentren und fehlende Angebote bzw. weite Wege auf dem Land.
Eine regelhafte Investitionsfinanzierung gibt es in weiten Teilen zudem nicht. Auf der Suche nach neuen Einnahmequellen haben immer mehr Kliniken den Medizintourismus entdeckt. Israels Krankenhäuser zehren – wie alle Einrichtungen von öffentlichem Interesse – von der Großzügigkeit ihrer Spender. Egal ob Parkbank, Foyer oder Bettenturm: Überall zeugen goldene Plaketten von den großzügigen Spenden von Mäzenen aus aller Welt. Zumindest in diesem Bereich können sich deutsche Krankenhäuser noch etwas abschauen.
Medizintourismus
Laut israelischem Gesundheitsministerium kommen jährlich rund 30.000 Medizintouristen nach Israel, die meisten davon aus Russland, der Ukraine oder anderen Nachbarländern. Aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion und Osteuropa sind in den 1990ern Hunderttausende Juden nach Israel migriert, entsprechend weit verbreitet sind diese Sprachen.
Im Medical Tourism Index des US-amerikanischen International Healthcare Research
Center rangierte Israel 2016 im weltweiten Vergleich hinter Kanada und Großbritannien
auf Platz 3. Im Segment „Qualität der Einrichtungen und Service“ belegte Israel gar den ersten Platz. Im Sourasky Medical Center in Tel Aviv ist eine eigene Abteilung für die
Anwerbung und Betreuung von Medizintouristen zuständig. Punkten will man mit
hochwertiger medizinsicher Ausstattung, vielsprachigem Personal und guten Preisen.
Die Preise für die jeweilige Behandlung sind wie alle anderen Leistungen israelischer
Kliniken staatlich vorgegeben. Ausländische Patienten müssen allerdings einen
Aufschlag bezahlen. Die meisten Touristen kommen aus Russland, der Ukraine und
anderen osteuropäischen Ländern – Israel gilt nicht zuletzt nach der Immigrationswelle
aus diesen Regionen in den 1990ern als attraktives Ziel.