Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) erzielte durch rücksichtslose Arbeitskämpfe eine schrittweise Einführung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Diese Forderung ist nun im Vorfeld der anstehenden Tarifverhandlungen für den Krankenhaussektor ebenfalls zu hören. Die Idee klingt wunderbar, bis man realisiert, dass die Arbeit nicht verschwindet – sie muss von jemandem gemacht werden.
Die Realität im Gesundheitswesen, gekennzeichnet von einer 24/7-Versorgung, stellt eine fundamentale Hürde dar. Die 35-Stunden-Woche würde unausweichlich zu einem erhöhten Bedarf an medizinischem Personal führen, der laut Gewerkschaften zwar zumindest in der Pflege über das Pflegebudget finanziert ist, der aber in Zeiten von Fachkräftemangel real nicht zu decken ist. Die durch kürzere Arbeitszeiten entstehende Lücke müssten die vorhandenen Mitarbeitenden durch Überstunden füllen. Entlastungstarife oder neue Arbeitszeitmodelle sollten die Überbelastung für die Beschäftigten reduzieren und auf die individuelle Lebenssituation Rücksicht nehmen.
Das Dilemma bisheriger Entlastungstarifverträge zeigt, dass die Unzufriedenheit in der Pflege einerseits trotz massiver finanzieller Aufwertung der Vergütung und andererseits trotz der Entlastungstarifverträge bleibt. Laut Glücksforschern steigt die Zufriedenheit, sofern das höhere Einkommen auch zu einer höheren Kontrolle über das eigene Leben führt. Das führt dazu, dass Überstunden oft unvermeidbar, aber finanziell wenig lohnend sind. Immer mehr Mitarbeitende reduzieren auf 80 Prozent oder weniger. Eine Steuerreform, die die Abgabenlast reduziert, scheint unerlässlich, um Vollzeit- sowie Mehrarbeit attraktiver zu machen und das System zu entlasten. Die Patientenversorgung rund um die Uhr lässt sich nicht mit den Anforderungen in anderen Branchen vergleichen. Während die Bahn beim Fehlen von Personal einfach den Fahrplan einschränkt, haben Krankenhäuser diese Option nicht. Digitalisierung kann Arbeitslast reduzieren und freie Zeit schaffen für die Arbeit am und mit den Patienten – die Präsenz reduziert sich dadurch aber nicht. Dies verdeutlicht die Einzigartigkeit der Herausforderungen im Gesundheitswesen und die Notwendigkeit branchenspezifischer Lösungen. Die 35-Stunden-Woche würde sich massiv auf die Qualität der Patientenversorgung auswirken und eine weitere Verknappung der Fachkräfte erzeugen. Letztendlich erscheinen die Einführung dieser sowie die gewerkschaftsseitig geforderten Entlastungstarifverträge im Kliniksektor nicht nur problematisch, sondern könnten die Probleme des Fachkräftemangels und der Arbeitslast sogar verschärfen – und sorgen, wie wir wissen, dabei nicht einmal zu einer höheren Mitarbeitendenzufriedenheit.
Wichtig ist, alle Maßnahmen zu intensivieren, die den Arbeitsplatz und die Arbeitszeit verlässlich gestalten. Hier gibt es viele hervorragende Beispiele, wie die Entlastung durch Umverteilung von Aufgaben auf andere Berufsgruppen, der Einsatz von pharmazeutisch-technischen Assistenten zur Entlastung der Ärzte und Prozessoptimierung oder die elektronische Arztbriefschreibung. Ziel ist die Reduktion der Überlastung: einerseits durch Erhöhung der Zeit der Mitarbeitenden mit den Patienten statt immer mehr Dokumentation und Bürokratie, andererseits die Förderung verlässlicher Planbarkeit der Arbeitszeit. Ein Katalysator wäre die Reform des Steuersystems, um Schicht- und Mehrarbeit finanziell attraktiver zu machen.