„Reha vor Pflege" – eines der Leitbilder im deutschen Gesundheitswesen, dessen Umsetzung genauso stockt wie „Prävention vor Kuration". Welche Hürden blockieren „Reha vor Pflege"? Was kann Rehabilitation statt Pflege im Sinne einer nachhaltigen Gesundheitsversorgung leisten?
Bereits bei der Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung in den 1990er-Jahren betonte § 5 im Sozialgesetzbuch (SGB) XI den Vorrang von Prävention und Rehabilitation. Ende 2013 verspricht die Koalitionsvereinbarung der schwarz-roten Bundesregierung: „Wir prüfen die Schnittstellen zwischen SGB V und SGB XI im Hinblick auf die konsequente Umsetzung der Grundsätze ambulant vor stationär und Prävention vor Rehabilitation vor Pflege." Mitte 2014 bilanziert der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) in seinem Gutachten: „Derzeit bestehen reduzierte Anreize zur Durchführung pflegevermindernder Reha-Maßnahmen." Elisabeth Scharfenberg, Sprecherin für Pflege- und Altenpolitik der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, bringt es auf den Punkt: „In der Praxis findet das Prinzip ‚Reha vor Pflege‘ kaum statt." Die SPD-Politikerin Mechthild Rawert, Mitglied im Gesundheitsausschuss des Bundestages, stimmt zu: „Der Anteil der Reha-Inanspruchnahmen ist derzeit zu gering. Aber wir arbeiten daran."
Laut Sachverständigenrat zeigen Krankenkassen ein nur „geringes Interesse", mit mehr Rehabilitationsausgaben die Pflegebedürftigkeit ihrer Versicherten zu „beeinflussen".
Die Ausgaben der Krankenkassen für die medizinische Rehabilitation nach § 40 SGB V – summiert in der Haushaltsposition „Vorsorge- und Rehabilitationsleistungen" – haben sich in den vergangenen zehn Jahren auf 2,5 Milliarden Euro eingependelt. 2014 gaben sie 2,57 Milliarden Euro aus – 1,3 Prozent der Gesamtleistungsausgaben. Der Anteil der Vorsorge- und Rehabilitationsausgaben an den gesamten Gesundheitsausgaben aller Kostenträger belief sich 2012 laut SVR-Gutachten auf 2,9 Prozent. Gleichzeitig stiegen von 2004 bis 2014 die Ausgaben der sozialen Pflegeversicherung um über 44 Prozent von 16,8 auf 24,2 Milliarden Euro. Die Kosten für ambulante Pflege erhöhten sich 2014 sogar um fast 60 Prozent auf 13,1 Milliarden Euro.
Fehlanreize und ökonomische Chancen
Die Barmer GEK berechnete in ihrem Pflegereport 2014, dass jeweils nur rund fünf Prozent der Betroffenen Rehabilitation oder geriatrische Frührehabilitation vor dem Eintritt ihrer Pflegebedürftigkeit in Anspruch nahmen. Elisabeth Scharfenberg verdeutlicht: „Rechtsansprüche oder Sanktionen – wie die Strafzahlungen der Kranken- an die Pflegekassen in Höhe von 3.072 Euro bei unterlassener medizinischer Reha-Leistung (§ 40 Absatz 3 Satz 6 SGB V) – greifen kaum." Warum sind die Beteiligten bei absehbar weiter wachsenden Pflegeausgaben offenbar wenig an pflegeverhindernder Rehabilitation interessiert?
Zunächst spielen Krankenkassen als Rehabilitationskostenträger eine subsidiäre Rolle. Ihre Zuständigkeit greift jedoch bei medizinischer respektive geriatrischer Rehabilitation und der Frage „Reha vor Pflege?" – eine höchst beitrags- und damit wettbewerbsrelevante Entscheidung. Denn Investitionen in Rehabilitation belasten die Krankenkassenbudgets. Von den Erfolgen verminderter Pflegeausgaben profitieren andere – die wettbewerbsfreien Pflegekassen, zwischen denen jedoch ein vollständiger Ausgabenausgleich stattfindet.
Begutachtung ist bisher zu kompliziert
Dabei rechne sich Rehabilitation vor Pflege – meint Thomas Bublitz, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Deutscher Privatkliniken e.V. (BDPK): „Richtig eingesetzte Rehabilitation kann Pflegebedürftigkeit bis zu zwölf Monate verzögern. Bei den derzeit durchschnittlichen Kosten je Pflegebedürftigem von rund 820 Euro monatlich amortisieren sich die Gesamtkosten einer geriatrischen Reha von maximal 3.000 Euro nach spätestens vier Monaten." Entscheidend für diesen Erfolg sei jedoch, frühzeitig eine drohende Pflegebedürftigkeit festzustellen. „Mit einfachen Assessments wie dem‚ timed up and go‘ -Test könnten beispielweise Hausärzte Einschränkungen bei Beweglichkeit und Körpergleichgewicht identifizieren. In der Folge eingeleitete Reha-Maßnahmen würden sturzprophylaktisch und damit pflegevermeidend wirken", schlägt Thomas Bublitz vor.
Ein weiteres Hindernis für „Reha vor Pflege" besteht im bisherigen einstufigen Begutachtungsverfahren durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK). Nach einem Bericht des Spitzenverbandes Bund der Pflegekassen aus dem September 2014 sind bei knapp 1,3 Millionen Pflegebegutachtungen nur rund 5.300 Empfehlungen für eine medizinische Rehabilitation ausgesprochen worden – 0,4 Prozent. Prof. Dr. Heinz Rothgang, Abteilungsleiter am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen und Ko-Autor des Barmer GEK Pflegereports, hat im Projekt „Reha XI" das zweistufige Begutachtungsverfahren durch einen „gute-Praxis-Standard" weiterentwickelt. Der Erstbewertung durch Pflegefachkräfte des MDK folgt in unklaren Fällen ein ärztliches Gutachten. „In der Evaluationsphase zum neuen Verfahren konnten wir den Anteil der Reha-Empfehlungen auf 6,3 Prozent erhöhen", erklärt Rothgang. Seit Anfang 2015 führt der MDK das Reha XI-Verfahren mit der erklärten Absicht einer Steigerung der Rehabilitationsmaßnahmen ein.
Mangelnde Versorgungsangebote sind ein weiterer Hemmschuh. Der Barmer GEK Pflegereport 2014 zeigt, dass Patienten mehr geriatrische Rehabilitation erhalten, wenn sie in Bundesländern wohnen, in denen das entsprechende Angebot größer ist als jenes für geriatrische Frührehabilitation im Akutkrankenhaus. Rothgang und Kollegen sehen in diesen Regionen eine verzögerte Pflegebedürftigkeit, was auf die Wirksamkeit von geriatrischer Rehabilitation hindeute. Die Zweigleisigkeit von geriatrischer Rehabilitation und der Frührehabilitation in der stationären Akutgeriatrie tut nach Meinung von Scharfenberg ihr Übriges: „Es bestehen erhebliche Anreize, die profitable Akutgeriatrie zulasten der zumeist defizitären geriatrischen Rehabilitation auszubauen." Die häufig eingeschränkte Erreichbarkeit von Einrichtungen insbesondere der ambulanten geriatrischen Rehabilitation kommt hinzu. Dagegen steckt die mobile ambulante Rehabilitation im Laborstadium fest. „Die Fallzahlen bewegen sich im unteren dreistelligen Bereich", schätzt Rothgang.
Neue Gesetze als mögliche Lösung
Abhilfe versprechen neue Gesetzesvorhaben. Das bereits verabschiedete Präventionsgesetz verpflichtet die Pflegekassen, Präventionsmaßnahmen zur Pflegebedürftigkeitsvermeidung zu ergreifen.
Im Referentenentwurf zum „Zweiten Pflegestärkungsgesetz" vom 22. Juni 2015 legt der Gesetzgeber den Schwerpunkt unter anderem auf die verpflichtende Umsetzung des neuen Begutachtungsassessments (NBA) auf der Basis des Reha XI-Gutachtens zusammen mit einem neu gefassten Pflegebedürftigkeitsbegriff. Das NBA soll helfen, den in § 18 SGB XI formulierten Prüfungsauftrag hinsichtlich „geeigneter, notwendiger und zumutbarer Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation" verstärkter in der Praxis umzusetzen. Die Gesetzesbegründung spricht von „[…] verbesserten Möglichkeit […], eine bestehende Rehabilitationsbedürftigkeit zu erkennen und entsprechende Maßnahmen einzuleiten […]".
In der Diskussion zum Thema „Reha vor Pflege" finden sich weitere Lösungsvorschläge. Dabei geht es um Ausgleichszahlungen der Pflege- an die Krankenkassen oder um die Aufnahme der Pflegeversicherung in den Kreis der Rehabilitationsträger. Ein weiterer Vorschlag betrifft die Abkehr von der Rehabilitation als Ermessensleistung mit Begutachtung zugunsten einer medizinischen Verordnung.
Angesichts der Vielzahl von Lösungsideen für mehr Reha vor Pflege gilt jedoch die Zusammenfassung der Gesundheitspolitikerin Rawert: „Gesetze allein verändern nicht die Realität. Die zahlreichen und interagierenden Hindernisse können nur alle Beteiligten gemeinsam überwinden."