Das technisch Machbare ist dem politisch Gestaltbaren uneinholbar davongeeilt. Eine Bestandsaufnahme zum Ende der Gesundheitswirtschaft, wie wir sie kennen.
Im Frühjahr 2016, als die Brexit-Befürworter im Vereinigten Königreich sich anschickten, das Selbstverständnis der Europäischen Union auf den Kopf zu stellen, zeigte die Hamburger Ärzteschaft, wie schwer Veränderungen im Alltag fallen: Deutschlands zweitgrößter Klinikkonzern, die Asklepios Kliniken, hatte Hand an den langärmeligen Ärztekittel gelegt und die Ärztekammer an der Alster damit zu einer Resolution animiert, aus der unüberhörbar auch Statusdenken sprach. Der Arztkittel schaffe Vertrauen und Orientierung, ließ die Delegiertenversammlung wissen. Er diene als klares Unterscheidungsmerkmal gegenüber anderen Berufsgruppen und müsse erhalten bleiben.
Was die Herren Zetsche (Daimler), Bäte (Allianz) und Kaeser (Siemens) davon wohl hielten? Vorstände von Multi-Milliarden-Konzernen flanieren mit offenen Hemdkragen über die Catwalks ihrer Bilanzpressekonferenzen und Produktshows. Sie ersetzen die rahmengenähten Budapester durch Stan Smith-Sneaker und machen das Du salonfähig. Moden waren dem Top-Management nie fremd. Die Mode dieser Zeit, die Manager im Silicon Valley-Look auf die Bühnen treibt und ganz nebenbei etablierte Businessmodelle unter sich begräbt, ist die Digitalisierung – genauer gesagt die digitale Transformation, also die Vernetzung der realen mit der digitalen Welt. An ihr arbeiten sich schon innovationsgetriebene Branchen mehr schlecht als recht ab. Für die Gesundheits- und Sozialwirtschaft aber droht sie, einem Tsunami gleichzukommen.
Unzählige Geschäftsmodelle, deren gemeinsamer Wesenskern die Schnellebigkeit ist, prallen auf Strukturen, die sich über Jahrzehnte etabliert und ineinander geschmiedet haben. Betriebswirtschaftliche Unbedarftheit trifft auf institutionalisierte Unbeweglichkeit. Das Ende der Gesundheitswirtschaft, wie wir sie kannten, ist eingeläutet.
Bis vor Kurzem gab es gute Gründe, die Unbeweglichkeit der Branche als positive Konstante zu betrachten. Nicht wenige Protagonisten im Medizinbetrieb sind von der Unvergleichbarkeit ihres Schaffens überzeugt. Eine Praxis ist kein normaler Wirtschaftsbetrieb, ein Krankenhausarzt kein x-beliebiger Schichtarbeiter, und Patienten sind keine gewöhnlichen Kunden. Untermauert wird diese vermeintliche Einzigartigkeit mit folgenden Merkmalen der Gesundheitswirtschaft:
- Der Versorgungsauftrag: Der Begriff ist zwar gesetzlich nicht exakt definiert. Aber insbesondere dem SGB V dient er als Rechtfertigungsbasis. Kassen erstatten dem Arzt und dem Plankrankenhaus nur Leistungen, die im Rahmen des Versorgungsauftrags erbracht werden.
- Die Trägervielfalt: Die Koexistenz von privaten, öffentlichen und freigemeinnützigen Einrichtungen hat den Rang des Selbstzwecks erklommen.
- Die Corporate Governance: Noch bunter als die Trägervielfalt ist die dadurch bedingte Kodizes-Vielfalt mit Namen wie Deutscher Corporate Governance Kodex, Diakonischer Corporate Governance Kodex, AWO Corporate Governance Kodex, Public Corporate Governance Kodex, Kodex für Familienunternehmen – und, und, und.
- Das Arbeits- und Berufsrecht: EU-Arbeitszeitrichtlinien setzen der physischen Ausbeutung Grenzen, Antikorruptionsregeln der materiellen. Die balancierenden Vorstellungen der Generation Y sind dabei nicht einmal berücksichtigt.
- Der Konsolidierungsdruck: Sparen, Restrukturieren, Fusionieren und Change Management nehmen auch mehr als zehn Jahre nach Einführung des DRG-Systems kein Ende.
- Die Qualitätsdebatte (forciert durch die Digitalisierung): Zwar wird das entscheidende Qualitätskriterium, die Indikationsqualität, noch nicht so lebendig diskutiert wie beispielsweise das eigentlich quantitative Merkmal der Strukturqualität. Doch die Transparenz über gute und schlechte Behandlungen nimmt mit jedem Tag zu.
- Die Sektorengrenzen (perforiert durch Digitalisierung): Hermann Gröhes Metapher vom „Brücken bauen“ ist der rote Faden der aktuellen Gesundheitspolitik.
- Das Geschäftsmodell (desavouiert von der Digitalisierung): Neues gesucht, das Alte muss weiter funktionieren – ohne zusätzliche Investitionsmittel. Gefragt ist nichts weniger als die ökonomische Quadratur des Kreises.
Umbruch in der Medienbranche
Jeder dieser acht Aspekte lebt von einem eigenen Narrativ. Dennoch taugt diese Liste nicht zum Alleinstellungsmerkmal. Die genannten Kennzeichen der Gesundheitswirtschaft finden sich zum Beispiel ebenso in der Medienbranche:
- Versorgungsauftrag: im Grundgesetz geregelt.
- Trägervielfalt: gelebte Praxis in stiftungseigenen Zeitschriften, privaten Medien oder öffentlich-rechtlichen Anstalten.
- Corporate Governance: Beim ZDF, zugegeben ein extremes Beispiel, wurde der Fernsehrat, dem Vertreter von Parteien, Kirchen und allerlei gesellschaftlichen Organisationen angehören, jüngst um knapp ein Viertel verkleinert – auf heute 60 Personen.
- Arbeits- und Berufsrecht im Umbruch: Wer ordentlich verdienen will, ohne noch mehr zu arbeiten, hat sich längst den PR-Publishern angeschlossen.
- Konsolidierungsdruck: Sparen, Restrukturieren, Fusionieren und Change Management halten die Verlagslandschaft seit Erfindung des Internets pausenlos in Atem.
- Qualitätsdebatte (forciert durch die Digitalisierung): Oder doch lieber Quote?
- Sektorengrenzen (perforiert durch Digitalisierung): Ein Blogger ist ein Kommentator, ist ein Autor, ist ein Redakteur, ist ein Journalist?
- Geschäftsmodell (desavouiert von der Digitalisierung): Der Tsunami wütet seit Jahren. Erschwerend kommt hinzu, dass Medien längst in einer doppelten Krise stecken, auf die die Gesundheitswirtschaft langsam zusteuert: eine Ertrags- und eine Glaubwürdigkeitskrise.
Der Apparat, der für zehn Prozent der hiesigen Wirtschaftskraft steht und optimistisch geschätzt 5,5 Millionen Menschen in Deutschland beschäftigt, ist bei allen Eigenheiten trotzdem vergleichbar. Er wird sich den fälligen Metamorphosen nicht entziehen können. Dafür sorgen drei unterschiedliche Kräfte, von denen jede einzelne das Potenzial hätte, die Gesundheitswirtschaft zu revolutionieren.
Drei umwälzende Kräfte am Werk
Erstens, die Digitalisierung: Das Beratungsunternehmen Excelacom hat einmal hochgerechnet, was in einer Minute im Web passiert (siehe Abbildung). Die Zahlen klingen noch überwältigender, wenn man sie am Vorjahreswert misst: Von Mitte 2015 bis Mitte 2016 hat sich die Zahl der von Uber vermittelten Fahrten pro Minute verdoppelt. Der Online-Händler Amazon verzeichnete ein Umsatzplus von 70 Prozent pro Minute. Und über Spotify hörten User 186 Prozent mehr Lieder pro Minute. Das Smartphone wird gerade erst zehn Jahr alt und hat sich bereits als Kulturtechnik etabliert. Die Medizin ist davon ebenfalls erfasst worden. Die Rhön-Klinikum AG verlängert die Überwachung der Vitalparameter von der Intensiv- auf die Normalstation. Konsequenterweise müsste sie nach der Entlassung bald auch bis ins Hometreatment ausgeweitet werden. Start-ups basteln an erforderlichen Apps und Wearables. Noch ist die Krankenhaus-IT-Industrie eher Plattformanbieter für den Mikrokosmos Krankenhaus. In Zukunft wird sie sich um den „Endkunden“ kümmern müssen. Disruption verlangt neue Geschäftsmodelle.
Zweitens, die Automatisierung und mit ihr die Invasivisierung: Wo der Robodoc einst noch enttäuschte, beflügelt DaVinci die Fantasien. Assistenzroboter halten Einzug in OP und auf Station. In patientenfernen Bereichen sind automatisierte Vehikel schon gang und gäbe. Die Automatisierung der Medizin wird das Verhältnis von Mensch und Maschine verändern und auch das zwischen den Menschen. Elektronische Implantate und neurotechnische Prothesen verlagern so manche Arzt-Konsultation an den eigenen Rechner.
Schon diese beiden Kräfte zusammengenommen stellen unter dem Schlagwort Health 4.0 die Gesundheitswirtschaft auf den Kopf. Die ständig verfügbare digitale Patientenakte, Diagnosen mithilfe künstlicher Intelligenz („Deep Learning“), Fernbehandlung als Subform des Crowdworkings, die Robotisierung der Pflege nebst selbst fahrender Liefersysteme. „Menschen dienen klugen Maschinen“, orakelte die amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff schon 1988 in ihrem Buch „In the Age of smart machine“. Damit einher ging, das räumte Zuboff 2014 in einem Essay für die Frankfurter Allgemeine Zeitung ein, auch der „Traum von der perfekten Kontrolle“. Der Artikel stand unter der Überschrift: „Die neuen Massenausforschungswaffen“.
Politik ist dem Tempo dieser Umwälzungen nicht gewachsen. Sie kann den Rahmen nicht so schnell anpassen, wie sich Patienten, Leistungserbringer und Industrie vernetzen. Zumal auch die dritte revolutionäre Kraft längst Wirkung entfaltet: die Ökonomisierung mit globalen monopolartigen Netzwerkanbietern und brutal überbewerteten Wachstumsfantasien. Die Wohnungsvermittlungsplattform Airbnb, die 600 Mitarbeiter beschäftigt und im vergangenen Jahr 200 Millionen Dollar umsetzte, soll zum Jahreswechsel 30 Milliarden Dollar wert gewesen sein – 20 Prozent mehr als beispielsweise die Hilton-Hotelkette mit 5.000 Hotels, 150.000 Mitarbeitern und mehr als sieben Milliarden Dollar Jahresumsatz. Im Silicon Valley-Kapitalismus schielen Beteiligungsindustrien auf „The next big thing“. Die Hoffnung, ein Start-up könne zum nächsten globalen Netzwerkbetreiber reifen, lässt den Wert der Beteiligungen durch alle Decken schießen. Und weil die oft standortfixierte Gesundheitswirtschaft ohne smarte Businessmodelle nicht ausreichend schnell wandlungsfähig sein wird, werden Start-ups auch der Medizin auf die Sprünge helfen. Agaplesion und die Sana Kliniken engagieren sich bewusst beim Inkubator Flying Health, Helios baut am Hub. Digitalstrategien diktieren die Geschäftsmodelle der Zukunft, weil sie die Kundschaft steuern werden.
Alle drei Kräfte verhandeln die Effekte der Economy of Scale mit denen der Economy of Scope zu einer besonders aggressiven Art. Vor der wird sich im Healthcare-Sektor niemand verstecken können. Die Biologie kennt die Mimese als weitverbreitete Form der Tarnung: Ein Lebewesen gleicht einem wenig verlockenden Objekt wie einem Stein, wodurch Fressfeinde nicht fündig werden. Die Mimese ist so lange erfolgreich, wie die Umwelt sich nicht ändert. Doch die Umwelt der Medizin ist in Umwälzung begriffen. Digitale Transformation hebt jede Tarnung auf. Disruption beseitigt Schonbereiche. Health 4.0 macht sichtbar, sie enttarnt und offenbart die Qualität mehr als jede politische Initiative. Minderwertige Leistungen fallen einer Negativauslese zum Opfer, herausstechende Qualität wird zur Beute der Netzwerk-Kapitalisten.
Rasanter Aufstieg, schneller Abstieg
Bevor nun die Politik reagieren kann, Kartellgesetze überarbeitet hat und Eigentumsrechte an Datenschätzen definieren kann, nimmt das Evolutionstempo abermals zu. 2007, also vor knapp zehn Jahren, hat Apple das iPhone vorgestellt und damit User Experience neu definiert. Es folgte ein atemberaubender Gipfelsturm, der Apple zum wertvollsten Unternehmen der Erde machte, während einstige Wettbewerber wie Nokia und Motorola vom Markt verschwanden. Und heute, zehn Jahre später?
TV-Moderator Jan Böhmermann spricht von Apple als einer untergehenden Religion, Cicero prophezeit den Abstieg des iPhone-Herstellers. 1961 schrieb der amerikanische Linksintellektuelle Kenneth Galbraith über die „Technokultur“ in der modernen Industriegesellschaft: Die Macht sei an eine neue Produktionsfunktion übergegangen, an Menschen mit vielfältigem technischen Wissen, technischer Erfahrung und sonstigen technischen Fähigkeiten. Ein gutes halbes Jahrhundert später ist die Macht weitergezogen zu den digitalen Netzwerkbetreibern und Datensammlern. Die wichtigste Frage im Sozialstaat 4.0 lautet nicht mehr, wie wir eine flächendeckende Versorgung solidarisch finanzieren, sondern wer die Versorgung von nun an steuert.