Psych-Reform

Vertane Chancen als Ansporn

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Vertane Chancen als Ansporn
© Lorenzo Antonucci

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde ruft auf, jetzt die Weichen für eine zukunftsfähige psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung bei steigender Nachfrage und begrenzten Ressourcen zu stellen. Einige wertvolle Chancen seien bereits vertan. 

Jedes Jahr erkrankt in Deutschland etwa jeder vierte Erwachsene an einer psychischen Erkrankung. Zwar ist nicht jeder Fall behandlungsbedürftig, aber nur etwa jeder fünfte Betroffene nimmt eine professionelle Behandlung in Anspruch. Grundsätzlich verfügt Deutschland auch im internationalen Vergleich über ein gut ausgestattetes psychiatrisch-psychotherapeutisches Versorgungssystem. So hat es die zweithöchste Psychiater-Dichte unter allen OECD-Ländern (38 Mitgliedsstaaten gehören zur Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), das dritthöchste Bettenangebot pro Einwohner und innerhalb der Europäischen Union gibt nur Dänemark mehr Geld im Vergleich zu seinem Bruttoinlandsprodukt für psychische Erkrankungen aus. 

Aufgrund übergeordneter Faktoren wie dem demografischen Wandel, Folgen der Coronapandemie, Klimawandel, Krieg in Europa aber auch die Cannabislegalisierung ist zu erwarten, dass der Hilfebedarf in den kommenden Jahren steigen wird. Zudem scheuen dank der langsam fortschreitenden Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen immer weniger Menschen, sich professionelle Hilfe zu suchen. Daher ist es jetzt wichtig, die Weichenstellung für eine qualitativ hochwertige Versorgung bei steigender Nachfrage und begrenzten Ressourcen zu legen. 

Fachkräftemangel und verfehlte Personalpolitik

Wie in der gesamten Medizin ist auch die Psychiatrie vom Fachkräftemangel betroffen. In der jährlichen Befragung des Deutschen Krankenhausinstituts (DKI) im Psychiatrie Barometer berichtet die überwältigende Mehrheit der Krankenhäuser, dass die erforderlichen Stellen aufgrund des Fachkräftemangels unbesetzt bleiben müssen. Insbesondere im Pflegedienst verschärft sich das Problem von Jahr zu Jahr: 2019 berichteten 73 Prozent der Krankenhäuser von Besetzungsschwierigkeiten, 2022 waren es bereits 86 Prozent. 

Dabei ist eine ausreichende Ausstattung mit qualifiziertem Personal aus unterschiedlichen Berufsgruppen der zentrale Baustein für eine qualitativ hochwertige, leitliniengerechte und moderne Behandlung psychischer Erkrankungen. Daher sind entschiedene Maßnahmen vonseiten der Politik und Selbstverwaltung nötig, um Krankenhäuser dabei zu unterstützen, qualifiziertes Personal zu finden und zu halten. Leider ist festzustellen, dass Kliniken mit diesen Problemen häufig nicht nur allein dastehen, sondern sogar auch bestraft werden sollen. 

Verheerende Folgen durch Strafsanktionen befürchtet 

Die 2020 vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) entworfene Personalausstattungs-Richtlinie, sogenannte PPP-RL, hat die mehr als 30 Jahre alten Vorgaben der damaligen Personalverordnung fortgeführt und zu Untergrenzen für die Personalausstattung deklariert. Sind diese Untergrenzen in nur einer Berufsgruppe in einem Quartal nicht erfüllt, sieht die PPP-RL drakonische Strafzahlungen vor. Diese liegen um ein Vielfaches über dem, was eine Klinik aufgrund der nicht besetzten Stellen einspart – häufig mehr als das Fünffache. Noch ist vorgesehen, die Strafzahlungen ab 2024 scharf zu stellen. 

Die Folgen für die Versorgung wären verheerend. Auswertungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Träger Psychiatrischer Krankenhäuser sowie des Lehrstuhls für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Regensburg zeigen, dass ab 1. Januar 2024 über 80 Prozent der Psychiatrien von den Sanktionen betroffen wären. Krankenhäuser, die die Stellen aufgrund fehlender Bewerber nicht besetzen können, versuchen die Sanktionen durch eine Einschränkung der Patientenzahlen und des Leistungsangebots zu vermeiden. Diese abrupte Lücke können keine anderen Leistungserbringer kompensieren, Betroffene werden ohne adäquate Behandlungsangebote vor Ort im Stich gelassen. Zudem müssen sich die Mitarbeiter auf häufige, kurzfristige Versetzungen auf andere Stationen einstellen, um dort akute Mängel auszugleichen. Im Ergebnis leistet die Richtlinie damit keinen Beitrag zu einer qualitativ hochwertigen Versorgung. Im Gegenteil: Sie gefährdet die Versorgungssicherheit und schmälert die Attraktivität des Arbeitsplatzes Psychiatrie.  

Patientenbedarf im Fokus 

Die Selbstverwaltung ist daher aufgerufen, von diesen unverhältnismäßigen und die Versorgung gefährdenden Maßnahmen Abstand zu nehmen. Stattdessen ist es höchste Zeit, den Auftrag des Gesetzgebers zu erfüllen und eine Richtlinie zu erarbeiten, die tatsächlich evidenzbasiert zu einer leitliniengerechten Behandlung beitragen kann. Eine Personalrichtlinie sollte nicht nur eine willkürliche Untergrenze definieren, sondern muss ermitteln, wie viele Personal für eine gute, moderne Behandlung notwendig ist. Dabei ist dem medizinischen Fortschritt der letzten Jahrzehnte, der in den Leitlinien abgebildet ist, ebenso Rechnung zu tragen wie innovativen Behandlungsansätzen und den, insbesondere in der Psychiatrie von herausragender Bedeutung, gestiegenen menschenrechtlichen Ansprüchen. 

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Da die PPP-RL dies nicht erfüllt, hat die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) vor einigen Jahren gemeinsam mit anderen Fachgesellschaften und Verbänden ein Personalbemessungsinstrument entwickelt: das sogenannte Plattform-Modell. Es stellt den patientenindividuellen Bedarf in verschiedenen Dimensionen sowie Ausprägungen an den Anfang und bestimmt den Personalbedarf. Nach einer erfolgreichen Machbarkeitsstudie wird die konkrete Umsetzung aktuell in einer Innovationsfonds geförderten Studie („EPPIK“) evaluiert. Die Ergebnisse sollen in die Evaluation des G-BA zur Weiterentwicklung der PPP-RL einfließen und hoffentlich zum längst schon fälligen Erfüllen des Gesetzesauftrags beitragen. 

Gestufte Versorgung im Netzwerk

Für eine bedarfsgerechte Versorgung sind neben einer sinnvollen Personalausstattung auch neue Versorgungsmodelle notwendig. Denn häufig finden Menschen mit akuten Symptomen einer psychischen Erkrankung, in Krisen oder mit chronischen Verläufen nicht die für sie individuell passende Hilfe oder scheitern an den Schnittstellen zwischen den verschiedenen ambulanten und stationären Angeboten, was zu Verzögerungen und Behandlungsabbrüchen führt. Im Resultat stehen insbesondere den Patienten mit größerem Bedarf weniger Hilfsangebote zur Verfügung.

Es fehlt bislang ein gestuftes Versorgungsangebot innerhalb eines vernetzten Hilfesystems. Dieses muss die verschiedenen Hilfsangebote einerseits und die Patientenwege andererseits koordinieren und steuern, damit alle Betroffenen die Hilfen erhalten, die sie benötigen. Ein vielversprechender Ansatz, der diese Prinzipien befolgt, ist das Hamburger Recover-Modell, das in einer ebenfalls von Innovationsfonds geförderten Studie getestet und evaluiert wurde. Das Ergebnis zeigt: Eine gestufte sektorenübergreifende Versorgungsform ist kosteneffizient und wirksam. Trotz dieser beachtlichen Ergebnisse soll das Recover-Modell nicht in die Regelversorgung überführt werden. Eine mehr als vertane Chance für echte Reform in der Psychiatrie, aber auch Ansporn für die DGPPN sich weiterhin für eine qualitätsgesicherte Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen stark zu machen.  

Autor

Prof. Dr. Andreas Meyer-Lindenberg

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