Vor dem Rathaus in Hannover türmt sich eine fünf Meter hohe Welle aus Kartons – Symbol für die Bürokratie, die Klinikbeschäftigte täglich überrollt. Die Niedersächsische Krankenhausgesellschaft warnt: Der Dokumentationsaufwand gefährdet die Versorgung der Patienten und verschärft den Fachkräftemangel.
Fünf Meter hoch türmt sich die Welle vor Hannovers Rathaus auf, gebaut aus Kartons, die symbolisch für Akten, Formulare und Gesetzestexte stehen – und daneben drei Klinikbeschäftigte, die drohen, von der Bürokratie umgeworfen zu werden. So stellt die Niedersächsische Krankenhausgesellschaft (NKG) die aus ihrer Sicht viel zu große Fülle an bürokratischen Vorgaben dar, die auch zulasten der Patienten gehe.
Wie hoch ist der bürokratische Aufwand für Ärzte und Pflegekräfte?
Drei von acht Stunden der Tagesarbeitszeit entfallen in den Kliniken laut NKG-Verbandsdirektor Helge Engelke mittlerweile auf Dokumentationspflichten. Dazu zählen etwa Medikationspläne, Übergaben oder Arztbriefe.
Die Zeit für diese bürokratischen Aufgaben fehle in der Patientenversorgung, erklärte Engelke. Angesichts des Fachkräftemangels könne sich das Gesundheitswesen diese "Verschwendung von Arbeitskraft" nicht leisten.
Die Gewerkschaft Verdi spricht davon, dass Pflegekräfte in einzelnen Fällen bis zu einem Viertel der Arbeitszeit für Dokumentation aufbringen müssen.
Was sagen die Beschäftigten?
"Aus Sicht der Klinikbeschäftigten ist zu differenzieren", sagt Verdi-Fachbereichsleiter David Matrai. Viele Dokumentationen seien notwendig für eine professionelle Pflege. Eine pauschale Kritik der Arbeitgeber sei zudem auch deshalb bedenklich, weil sie oft Dokumentationen umfasse, die für gute Arbeitsbedingungen wichtig seien. "Hierzu gehört eine Erfassung des Personalschlüssels, um die Einhaltung von Personalvorgaben zu gewährleisten." Gleichzeitig müsse es aber besser als bisher gelingen, ausreichend Personal für notwendige Dokumentationen vorzuhalten – damit die Pflegekräfte entlastet werden und sich um die Pflege kümmern können.
Leidet die Patientenversorgung unter der Bürokratie?
Der Medizin-Vorstand des Evangelischen Krankenhauses in Oldenburg, Alexander Poppinga, sagt, es fielen durch die Bürokratie keine medizinischen Leistungen weg. Aber: "Wir müssen viel, viel mehr Personal einsetzen, um die gleichen Leistungen zu erbringen." In einer Stroke Unit für Schlaganfallpatienten etwa müssten alle zwei Stunden die Vitalparameter erhoben werden. Passiert das nicht, könne das Krankenhaus die gesamte Behandlung nicht mehr abrechnen.
Ein weiteres Beispiel: Für die Übergangspflege – eine Weiterversorgung im Krankenhaus, wenn eine Pflege zu Hause oder in der Reha nicht möglich ist – müsse ein Krankenhaus dokumentieren, dass es mindestens 20 Anschlussversorger erfolglos angefragt hat. Im Ergebnis komme so gut wie niemand in die Übergangspflege, weil die Hürden einfach zu hoch seien.
NKG-Direktor Engelke zufolge kann es zudem passieren, dass ein Krankenhaus bestimmte Leistungen künftig gar nicht mehr anbietet, weil schlicht nicht genügend Personal dafür da ist.
Welche Rolle spielt die Krankenhausreform?
Die von der vergangenen Bundesregierung vorangetriebene Krankenhausreform verfolgt das Ziel, die Kliniklandschaft effizienter zu machen. Dazu zählt neben einer Eingruppierung der Kliniken in Leistungsgruppen auch ein Abbau von Bürokratie – jedenfalls auf dem Papier. Niedersachsens Gesundheitsminister Andreas Philippi aber ist, ebenso wie die Klinikgesellschaft, skeptisch. Zwar baue die Reform zwei Seiten Bürokratie ab, "aber mindestens 18 Seiten neu auf", sagte der SPD-Politiker.
Auch eine Zusammenlegung von Krankenhausstandorten wird es im Zuge der Reform geben, wie NKG-Direktor Engelke bestätigte. Minister Philippi hatte dazu in der Vergangenheit gesagt, es gehe nicht darum, Krankenhäuser zu schließen, sondern medizinisches Knowhow zu konzentrieren.
Wie kann Bürokratie abgebaut werden?
Die NKG hat eine Reihe konkreter Vorschläge gemacht. Schnell umzusetzen sein könnte davon eine Abschaffung des sogenannten Klinik-Atlas, der Patienten die Klinikauswahl erleichtern sollte. In der Praxis sei der Atlas aber fehlerhaft, verursache viel Arbeit und biete keinen Mehrwert gegenüber Angeboten wie dem Deutschen Krankenhausverzeichnis, so die Kritik.
Unterstützung bekommt die NKG hierbei von Minister Philippi: Je schneller der Atlas eingestampft werde, umso weniger Bürokratie ziehe er hinter sich her, sagte der SPD-Politiker. Philippi sieht zudem in digitalen Abläufen und Künstlicher Intelligenz einen Hebel für weniger aufwendige Papierarbeit.
Eine weitere Forderung der Branche: eine schnellere Anerkennung internationaler Fachkräfte. Hier springt die CDU der NKG bei. «Inmitten des akuten Pflegenotstands können wir es uns nicht leisten, dass qualifizierte Pflegekräfte monatelang auf ihre Anerkennung warten müssen», sagte der CDU-Sozialpolitiker Eike Holsten.
Wie viele Menschen arbeiten in Niedersachsens Kliniken?
Laut NKG sind in den Krankenhäusern etwas mehr als 45.000 Pflegekräfte und fast 17.000 Ärztinnen und Ärzte beschäftigt. Umgerechnet auf Vollzeitkräfte seien es rund 32.000 Pflegekräfte und 14.000 Ärzte.
Die Krankenhausgesellschaft macht anhand dieser Zahlen folgende Rechnung auf: Werde der bürokratische Aufwand an den Kliniken um eine Stunde pro Tag reduziert, würde das bereits eine immense Entlastung bedeuten. "Dann würden wir 1.700 Ärztinnen und Ärzte wieder am Patienten haben statt am Computer. Und noch stärker ist der Effekt in der Pflege: Wir würden 4.000 Pflegende wieder am Patienten haben und nicht am Papier", sagte Engelke.
dpa