Betrachtet man das „Diskussions- und Gedanken-Investment“ der vielen klugen Köpfe aus dem Gesundheitswesen in den zurückliegenden 20 Jahren, ist dies als Ökonom ernüchternd – oder schlichtweg ein schlechtes Input-Output-Verhältnis. Und dennoch: Es hat sich Einiges bewegt. Die Corona-Pandemie traf Deutschland und das Gesundheitswesen wie eine Art exogener Schock. Auch wenn wir es bis dato – epidemiologisch betrachtet – immer noch relativ gut durch die Krise geschafft haben, führte die Schock-Situation bei vielen zum „Agieren im Affekt“ – strategisches Handeln schien zunächst schwer. Dazu kam die Angst, die so gut wie immer zu irrationalen Handlungen führt. Nun ist der erste Schock vorbei und die Zeit gekommen, aus den Ergebnissen dieser Affekt-Handlungen zu lernen.
Verschobene elektive Krankenhausleistungen und Diskussionen über die Finanzierung der „Kapazitätsfreihaltung“ bei gleichzeitig weiterlaufenden Fixkosten überschatten derzeit jedoch ein wenig die gesundheitspolitische Diskussion. Glaubten wir doch, dass die in den vergangenen Jahren heftig geführten Diskussionen über die Mengendynamik mit dem Fixkostendegressionsabschlag ein Ende haben, scheint nun eine Art „zweite Runde“ zu beginnen. Finanzierungsfragen und Anpassungen im Vergütungssystem sind zwar wichtig, aber nur eine Seite der Medaille. Es gibt eine ganze Reihe weiterer, vielleicht produktiverer Struktur- und Prozessfragen, die nun – gerade vor dem Hintergrund der Corona-Erfahrung – angegangenen werden sollten.
So hat die Corona-Pandemie in drei zentralen Elementen einen positiven Einfluss: auf Hygiene, Quarantäneregeln und die Frage, mit welchen Keimen und Viren Patienten in ein Krankenhaus kommen. Die Bevölkerung hat gelernt, dass nicht einfach jeder, zu jeder Zeit mit ungeklärten Symptomen Zugang zu stationären Kapazitäten bekommen kann. Seit Jahren wird über Hygiene im Krankenhaus, über MRS-Infektionen und deren medizinischen, pflegerischen und ökonomischen Folgen diskutiert – und zum Teil neidvoll in andere Länder geblickt. Oft war von gezielter Steuerung der Patienten, von Quarantäne und einer teilweisen Schließung von Versorgungskapazitäten die Rede, um selbige keimfrei zu bekommen. Dies kommt einem in Corona-Zeiten mehr als bekannt vor und sollte – in einer Welt nach Corona – doch ein Startschuss sein, die Themen, die wir in diesem Bereich vorab schon diskutiert haben, erneut aufzugreifen. Allerdings müssen wir uns bewusst sein, dass dergleichen Pandemien in einer globalisierten Welt immer wieder vorkommen können.
Der dritte Punkt ist die Patientensteuerung. Wir haben es die letzten Jahrzehnte geschafft, so gut wie alle Bereiche des Gesundheitswesens – auf Seiten der Leistungserbringer wie auf Seiten der Kostenträger – hochgradig zu regulieren. Nur bei den Patienten ist in Punkto Steuerung wenig passiert. Dieser irrt – der freien Arzt- und Krankenhauswahl verpflichtet – durch ein komplexes System, das er nur zum Teil versteht und in dem seine Behandlungs- und Diagnosedaten zwischen den Sektoren und den IT-Systemen wie in einem „schwarzen Loch“ leider immer noch verschwinden. Nun hat die Corona-Krise gezeigt, wie Notfalltelefone und Beratungsstellen für Menschen mit Symptomen eine klare räumliche Trennung in den Ambulanzen sowie eine Steuerung in die jeweils „richtige“ Diagnosekapazität ermöglicht und eine weitere Ausbreitung des Virus verhindert haben.
Dies zeigt: Patientensteuerung hat viele positive Effekte, jedoch wird sie im heutigen System zu wenig angewandt. Dies gilt es zu ändern. Es ist an der Zeit, Patienten stärker an die Hand zu nehmen, in die richtige und effiziente Versorgung zu steuern. Dies muss freiwillig geschehen, ohne Zwang. Digitale Unterstützung via Apps kann hierbei zielführend sein, ebenso wie Integration neuer Erkenntnisse aus der Verhaltensökonomie und Gesundheitspsychologie. Nudging durch kluge Steuerungsangebote können dabei auch helfen, die Prävention endlich in den Mittelunkt stellen. Dem aber nicht genug: Auch mit einer neuen Wahlfreiheit der Versicherten im Rahmen von Versicherungsverträgen – gerade im Bereich der GKV – kann viel erreicht werden. So sind Versicherungsverträge mit und ohne Steuerung, beispielsweise mit einer Auswahl von Vertrags-Leistungserbringern, wie wir es beispielsweise aus der KFZ-Versicherung kennen, durchaus vorstellbar. Das hat dann aber auch mit mehr Eigenverantwortung des Einzelnen zu tun. Das ist in einer politischen Diskussion – gerade vor dem Hintergrund einer bevorstehenden Bundestagswahl im September 2021 – bei vielen politischen Akteuren derzeit sicherlich so gar nicht „en vogue“, sollte aber thematisiert werden.
Gerade in Zeiten der Krise ist immer wieder von Seiten der Bundesregierung an die Eigenverantwortung und die Vernunft der Bürger appelliert worden. Dort, wo dies nicht gelingt, braucht man Regeln und Konsequenzen für mangelnde Eigenverantwortung. Sei es, dass man Corona-Tests selbst zahlen oder den Verdienstausfall akzeptieren muss, wenn man aufgrund einer Reise in ein Risikogebiet in Quarantäne muss.
Dies sind richtige Anreize der Eigenverantwortung. Sie sind auch im Gesundheitswesen zu fordern – denn hier liegt ein großes, zu hebendes Potenzial für unser System, welches aufgrund des zunehmenden demografischen Wandels, einer konjunkturellen Schieflage und dem bevorstehenden Strukturwandel der Wirtschaft (Stichwort Industrie 4.0) vor erheblichen Finanzierungsherausforderungen steht. Hier das soeben erlernte Potenzial zu verschenken, wäre unverantwortlich!