Die zunehmende Infektionsdynamik sowie steigende Inzidenzen und Intensivbelegungen bereiten der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) große Sorge. Wie aus dem Tagesreport des Intensivregisters hervorgeht, befinden sich 3.845 Covid-Patienten (Stand Montag) in intensivmedizinischer Behandlung, davon werden 1.968 (51 Prozent) invasiv beatmet. "Die Corona-Lage ist besorgniserregend und momentan nicht unter Kontrolle", sagt DIVI-Präsident Prof. Dr. Gernot Marx in einer Pressekonferenz. Die Lage sei regional sehr unterschiedlich und teilweise extrem angespannt. In einigen Regionen müsse priorisiert werden und dort, wo es medizinisch vertretbar ist, Behandlungen aufgeschoben werden.
Selbst wenn die in der vergangenen Woche beschlossenen Maßnahmen greifen würden, rechnet er in nächster Zeit mit mindestens 4.500 Intensivpatienten. Die derzeitige Entwicklung sei identisch zu der im vergangenen Herbst, treffe aber auf reduzierte Kapazitäten: Es gibt rund 4.000 Intensivbetten weniger als noch vor einem Jahr. Sie fehlen, weil viele Pflegekräfte aufgrund von Erschöpfung die Arbeitszeit reduziert oder den Beruf gänzlich verlassen hätten. Zudem zählen nur die betreibbaren Betten, also jene mit technischem Equipment und mit entsprechenden Personal: Ärzte, Pflegekräfte und Physiotherapeuten. Es gebe zwar Betten in der Notfallreserve, "das Personal sitzt aber nicht im Hintergrund, sondern muss aus anderen Bereichen akquiriert werden", sagt Prof. Dr. Steffen Weber-Carstens, medizinisch-wissenschaftlicher Leiter des DIVI-Intensivregisters. In der Konsequenz müssen andere Bereiche im Krankenhaus runtergefahren und planbare Eingriffe verschoben werden. Marx rät davon ab, die Pflegepersonaluntergrenzen zugunsten der Bettenkapazitäten aufzuheben. "Es geht darum, schwer kranke Patienten adäquat zu versorgen", so Marx. Würde man das Personal, das seit 22 Monaten in der Pandemie arbeitet, mit noch mehr Patienten konfrontieren, wäre die Versorgung nicht mehr gut genug und würde noch mehr Menschen dazu bringen, aus dem Beruf auszuscheiden oder die Arbeitszeit zu reduzieren.
Patientenverlegungen in Thüringen und Sachsen
Vielerorts ist auch schon die Priorisierung ein Thema. Planbare Eingriffe werden verschoben und die Kliniken müssen sich umorganisieren, um Reserven zu schaffen und "um bei einem ungebremsten Anstieg entsprechend weiter die Versorgung aufrecht erhalten zu können", so Marx. Hält der ungebremste Anstieg weiter an, werde die Priorisierung in weiten Teilen Deutschlands notwendig sein. In Thüringen und Sachsen werden bereits im großen Stil Patienten verlegt, sagt Weber-Carstens. Hier greift bereits das Kleeblatt-Prinzip, bei dem Deutschland in fünf Bereiche aufgeteilt ist und sich die Bundesländer innerhalb eines Kleeblatts gegenseitig unterstützen. Funktioniert dieser lokale und überregionale Verteilermechanismus nicht mehr oder zeigen die Prognosen, dass sich die Situation verschlimmert, wären Verlegungen ins ganze Bundesgebiet geplant, erklärt Prof. Dr. Jan-Thorsten Gräsner, Mitglied der Steuerungsgruppe COVRIIN. Gute Planung ist hier wichtig, denn es ist ein technisches, medizinisches und logistisches Thema. So werden nur Patienten verlegt, die zwar intensivpflichtig sind, aber bestimmte Kriterien erfüllen. Die Herausforderung ist, diese Patienten nicht ins nächste Krankenhaus zu verlegen, sondern weiter weg. Gräsner spricht in diesem Zusammenhang von einer "strategischen Verlegung" und keiner Notfallverlegung mit dem Ziel, den überlasteten Regionen zu helfen. Primär würde man dabei auf kritisch kranke Intensivpatienten achten, die jedoch ein geringeres Niveau an Unterstützung benötigen. Nicht verlegt werden Patienten, die sich bereits in der ECMO-Therapie befinden. Ausgenommen sind jedoch diejenigen, die zu einer ECMO hinverlegt werden müssen, diese zählen als Notfall.
Schlüssel zum Erfolg
Welche Patienten befinden sich derzeit auf den Intensivstationen? Eine systematische Erfassung gibt es seitens der DIVI nicht, jedoch würde jeder die selbe Information weitergeben, so Marx. Schwere Verläufe hätten meist ungeimpfte Patienten, auch die überwiegende Anzahl der ECMO-Patienten sei ungeimpft. Impfdurchbrüche würden vor allem ältere Patienten mit zusätzlichen Erkrankungen oder im Zustand nach Transplantationen betreffen, da diese Patienten Medikamente nehmen, die das Immunsystem schwächen. "Wer vollständig geimpft ist und keine Erkankung hat, ist sehr sicher vor schweren Verläufen geschützt", so der DIVI-Präsident. Die Impfung sei für ihn der Schlüssel zum Erfolg der Pandemiebewältigung. Eine berufsbezogene Impfpflicht, wie sie in der vergangenen Woche in der Ministerpräsidentenkonferenz angestoßen wurde, lehnt er jedoch ab. Vielmehr sieht er das Personal im Gesundheitswesen in der "moral-ethischen" Verpflichtung sich impfen zu lassen. Obwohl die Inzidenz hoch ist, wird der Vorteil der Impfung deutlich. "Hätten wir die Impfung nicht, hätten wir bei der Inzidenz astronomisch hohe Zahlen", stellt Weber-Carstens im Hinblick auf die Zahl der Intensivpatienten fest. Diesen "Impfbonus", wie in Prof. Dr. Andreas Schuppert, Modellierer der DIVI, nennt, hätte man jedoch ausgeschöpft.