Zu viele hochaufwendige Patienten, zu wenig Pflegefachkräfte – ist der Personalmangel in der Pflege so drängend, wie vielerorts beklagt? Ein aktuelles Gutachten des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) im Auftrag der Techniker Krankenkasse kommt nun zu einem überraschenden Ergebnis. Es gibt aber noch lange keine Entwarnung.
Werden im Krankenhaus ausreichend Pflegekräfte eingesetzt? Sind die Patienten pflegerisch gut versorgt? Diese Fragen werden in der Öffentlichkeit derzeit intensiv diskutiert. Der Hintergrund: Die Einführung der Vergütung nach Fallpauschalen (DRG) könne die Arbeitsbedingungen in der Krankenpflege verschlechtert, die Arbeitsbelastung erhöht, die Arbeitszufriedenheit gemindert und letztendlich die Versorgungsqualität und Patientenzufriedenheit reduziert haben. Die Forderung, die damit meist einhergeht: Die Zahl der Pflegekräfte in Krankenhäusern sollte über gesetzliche Personalmindestanforderungen deutlich erhöht werden. Eine Erhöhung der Zahl der Pflegekräfte könne die Versorgungsqualität und Patientenzufriedenheit wieder verbessern.
Doch wie sieht die Realität in deutschen Kliniken tatsächlich aus? Wie hängt die Versorgungsqualität für die Patienten vom Personaleinsatz ab? Würde mehr Personal die Qualität spürbar erhöhen? Ein aktuelles Gutachten des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) beschäftigt sich ausführlich mit der Personalsituation in deutschen Kliniken. Grundlage der Analysen bilden Makro- und Mikrodaten des Statistischen Bundesamts sowie andere Datenquellen. Das Gutachten thematisiert insbesondere folgende Fragen:
- Wie kann die pflegerelevante Leistungsmenge definiert werden? Wie stark hängt die Zahl der Pflegekräfte von der Zahl der behandelten Patienten und der Zahl der Belegungstage ab? Dabei ist zu klären, welcher Pflegeaufwand „fallfix" und welcher „fallvariabel" ist.
- Wie hat sich die pflegerelevante Leistungsmenge in den vergangenen Jahren und infolgedessen die Belastung der Pflege verändert?
- Wie hängen Pflege und Versorgungsqualität für den Patienten zusammen? Lässt sich eine Verschlechterung in der medizinischen Qualität oder der Patientenzufriedenheit in den vergangenen Jahren erkennen? Wenn ja, kann dies an einer Reduktion der Pflege liegen?
Zwischen 2002 und 2014 sank die Zahl der Pflegekräfte insgesamt um vier Prozent. Betrachtet man den Zeitraum von 2006 bis 2014, stieg sie um fünf Prozent. Um einen möglicherweise wichtigen Trend im Bereich der Pflege nicht auszublenden, wählten die Studienautoren als Startzeitpunkt der meisten Analysen das Jahr 2002. Um beurteilen zu können, ob sich die Arbeitsbelastung der Pflege seit 2002 verändert hat, sind die Kennzahlen „Pflegekräfte je Belegungstag" („fallvariabel") sowie „Pflegekräfte je Fall" („fallfix") von großer Bedeutung. Dabei wurde der Frage nachgegangen, welche Anteile der Arbeit fallfix sind – zum Beispiel Aufwand bei Aufnahme, nach einer Operation, bei der Entlassung – und welche fallvariabel sind, also von der Verweildauer im Krankenhaus abhängen.
In der Literatur finden sich durchschnittliche Werte von 40 Prozent fallfixem Aufwand. Eigene Analysen mit Mikrodaten auf Krankenhausebene deuten darauf hin, dass die Fallzahl mit einer Gewichtung von 60 Prozent einen etwas höheren Einfluss auf die Zahl der Pflegekräfte hat als die Verweildauer mit einer Gewichtung von 40 Prozent. Wird die pflegerelevante Leistungsmenge über erstere Gewichtung dieser beiden Einflussfaktoren „Fallzahl" (40 Prozent) und „Belegungstage" (60 Prozent) definiert, ergibt sich, dass die Zahl der Pflegekräfte je pflegerelevanter Leistungsmenge zwischen 2002 bis 2014 um ein Prozent gestiegen ist (Abbildung).
Nimmt man hingegen an, dass 50 Prozent des Pflegeaufwands fallfix sind, ergibt sich eine Abnahme der Zahl der Pflegekräfte je pflegerelevanter Leistungsmenge um 1,3 Prozent. Unterstellt man, dass 60 Prozent fallfix und 40 Prozent fallvariabel sind, so ergibt sich ein Rückgang in der Zahl der Pflegekräfte je pflegerelevanter Leistungsmenge von 3,6 Prozent. Die Änderungen fallen insgesamt also jeweils vergleichsweise klein aus. Insgesamt hängt der Pflegeaufwand aber auch noch von anderen Faktoren ab (siehe Kasten).
Beim Pflegeaufwand müssen, unabhängig von fallfixem und fallvariablem Aufwand, noch weitere Faktoren bedacht werden. Dazu gehören zum Beispiel die Fluktuation der Pflegekräfte, das Aufgabenspektrum der Pflege, der Grad der Digitalisierung, die Anforderungen an Patientensicherheit, Hygiene sowie die Bürokratie. Zu diesen möglichen Einflussfaktoren liegen allerdings keine belastbaren Daten über den Untersuchungszeitraum vor. In Gesprächen hoben Experten hervor, dass sich das Aufgabenspektrum des Pflegedienstes stark gewandelt habe. Einige nicht pflegerische Tätigkeiten, die Pflegekräfte 2002 noch übernommen hatten, wurden mittlerweile an Hilfskräfte, auch im nicht medizinischen Bereich, delegiert. Beispiele sind Transportdienste und Essensausgabe. Die amtliche Statistik greift einen solchen Wandel nicht auf.
Die Veränderung des Aufgabenspektrums der Pflege sowie eine zunehmende Digitalisierung könnten entlastend gewirkt haben. Umgekehrt dürften steigende Anforderungen an Patientensicherheit, Hygiene und Bürokratie belastend gewirkt haben. Auch kann ein höheres Alter der Patienten, unabhängig von der Fallzahl und Verweildauer, einen höheren Pflegebedarf auslösen. Allerdings ist zu vermuten, dass sich gerade bei älteren Patienten ein Teil der Pflege aus dem Krankenhaus in die häusliche Umgebung und in Pflegeheime verlagert hat. So stieg der Anteil der von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) finanzierten ambulanten Pflege an den gesamten Gesundheitsausgaben besonders stark von 1,3 Prozent im Jahr 2002 auf 2,4 Prozent bis 2013.
Zu beobachten ist außerdem eine starke Zunahme der Direktüberweisungen vom Krankenhaus in das Pflegeheim: 2002 waren es nur 48.000 Fälle, 2013 schon 339.000. Die Alterung der Bevölkerung kann diesen großen Anstieg alleine nicht erklären. Ferner hat die Kurzzeitpflege nach SGB XI weit überproportional zugenommen: zwischen 2003 und 2013 um 91 Prozent. Im gleichen Zeitraum stieg die Dauerpflege nur um 21 Prozent. All diese Veränderungen deuten darauf hin, dass es zu einer gewissen Verlagerung der Pflege aus dem Krankenhaus kam, was zu einer Entlastung der Pflege im Krankenhaus geführt haben könnte.
Arbeitszufriedenheit ist gesunken
Die Arbeitszufriedenheit in der Pflege scheint abgenommen zu haben. Zwischen 1998 und 2010 sank die Zufriedenheit mit dem Arbeitsklima und der Ausstattung mit Pflegepersonal. Es gibt jedoch große Unterschiede in der Unzufriedenheit mit der Arbeitssituation in deutschen Krankenhäusern. Grundsätzlich korreliert die Arbeitszufriedenheit positiv mit der Pflegepersonalausstattung.
Ferner ist ein leichter Anstieg im Krankenstand seit 2006 erkennbar – jedoch war er nicht pflegespezifisch und fiel in anderen Branchen ähnlich aus. Die Teilzeitquote in der Pflege hat ebenfalls zugenommen. Jedoch war auch dies keine pflegespezifische Entwicklung, sondern ist vergleichbar mit anderen Branchen – und auch mit dem ärztlichen Dienst. Der Anteil der Pflegenden mit Kündigungsabsicht in Deutschland lag im europäischen Durchschnitt.
Die Qualität ist nichtschlechter geworden
Ungeachtet der Veränderungen im Pflegedienst ist anhand von öffentlich verfügbaren Qualitätsinformationen keine Verschlechterung der Versorgungsqualität von Krankenhäusern in den vergangenen Jahren zu beobachten. Bei objektiven Qualitätsindikatoren ist sogar eine leichte Verbesserung festzustellen. Hierunter fallen Indikatoren nach der Qualitätssicherung mit Routinedaten (QSR), des AQUA-Instituts und des BQS Instituts für Qualität & Patientensicherheit.
Die durch Patienten empfundene, über Fragebögen gemessene Versorgungsqualität blieb konstant auf hohem Niveau. Die Dekubitusrate (Wundinfektionsrate) sank: 2004 wurden 1,5 Prozent der Patienten mit Dekubitus 1 bis 4 aus dem Krankenhaus entlassen – ohne dass ein Dekubitus bei der Aufnahme vorgelegen hatte. 2012 lag der Wert nur bei 0,9 Prozent. Auch sank der Anteil der Patienten mit postoperativer Wundinfektion.
Umfangreiche multivariate Regressionsanalysen auf Basis von Krankenhausdaten der Jahre 2002 bis 2013 des Statistischen Bundesamts mit einer gesamten Stichprobengröße von bis zu 20.000 konnten keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Zahl der eingesetzten Vollkräfte in der Pflege und der Mortalitätsrate nachweisen. Zwar ergab sich ein leicht negativer Zusammenhang, das heißt, ein Mehr an Pflegekräften hängt mit einer leicht niedrigeren Mortalitätsrate zusammen. Er war jedoch statistisch schwach und von der Größe des Effekts her nicht aussagekräftig: Eine Erhöhung der Zahl der Vollkräfte im Pflegedienst pro Fall um zehn Prozent korreliert mit einer Verringerung der Mortalitätsrate um nur 0,001 Prozentpunkte oder um 0,05 Prozent, wenn man die Verringerung der Mortalitätsrate zur durchschnittlichen Mortalitätsrate in der vorliegenden Stichprobe von 2,24 Prozent in Bezug setzt. Ebenso wenig konnte ein Zusammenhang zwischen der Menge an Pflegekräften und der Patientenzufriedenheit sowie Pflege und den QSR-Indikatoren nachgewiesen werden. Keine Aussage konnte auf Grundlage der Indikatoren von AQUA oder BQS getroffen werden, weil die Datenqualität und vor allem Datenverfügbarkeit für mehrere Jahre auf Krankenhausebene dazu nicht ausreichend war.
Bedarf an Pflegefachkräften wird stark wachsen
Derzeit kann auf Basis der vorliegenden Analysen kein akuter Handlungsbedarf in Bezug auf die Menge an Pflegedienst im Krankenhaus abgeleitet werden. Perspektivisch ist aber damit zu rechnen, dass der künftig wachsende Bedarf an Pflegefachkräften am Arbeitsmarkt nicht ohne Weiteres gedeckt werden kann – zumal auch die Altenpflege einen massiven Mehrbedarf in der Zukunft aufweisen wird. Schon zwischen 2002 und 2013 ist die Zahl der Pflegefachkräfte in der Altenpflege um 43 Prozent gestiegen. Aufgrund der aktuellen und künftig steigenden Knappheit dürften Pflegestellenförderprogramme – wie beispielsweise im Krankenhausstrukturgesetz (KHSG) vorgesehen – den wachsenden Bedarf an Pflegekräften nicht lindern können. Von Bedeutung sind vielmehr Maßnahmen, die darauf abzielen, dem Arbeitsmarkt kurz-, mittel- und langfristig mehr Pflegefachkräfte zur Verfügung zu stellen.
Dies kann erreicht werden durch ein Bündel von Maßnahmen: eine Reduktion der Teilzeitquote von Pflegekräften, eine Ausweitung der Ausbildungsaktivitäten sowie Weiterbildungsaktivitäten zur Höherqualifikation von Hilfspersonal und eine Verlängerung der Verweildauer von Pflegekräften in ihrem Beruf. Dazu muss die Attraktivität des Pflegeberufs erhöht werden durch eine höhere Vergütung, die sich über die Knappheit am Arbeitsmarkt einstellen wird, eine größere Lohnspreizung, um Anreize zur Weiterbildung zu erhöhen und um die mittlere Führungsebene zu stärken, Rückkehrangebote nach einer beruflichen Auszeit, eine altersgerechte Arbeitsorganisation, um ältere Pflegekräfte zu halten neue Karrierepfade und Aufgabenfelder, um die berufliche Laufbahn interessanter zu machen. Hierzu gehört auch das Aufbrechen des Denkens in Berufsgruppen. Im Vordergrund muss vielmehr die patientenorientierte Gestaltung von Prozessen stehen.
Eine weitere Option besteht in der qualifizierten Zuwanderung. Hierbei geht es darum, den Standort Deutschland für qualifizierte Zuwanderer attraktiv zu gestalten. Dazu gehören beispielsweise rechtliche Aspekte, wie die Einstufung von Pflegeberufen als Engpassberufe, die Überarbeitung der Zuwanderungsregeln oder die Vereinfachung und Vereinheitlichung von Regeln zur Anerkennung ausländischer Abschlüsse, aber auch die Unterstützung bei der Einwanderung, zum Beispiel Visabeschaffung, Sprachschulung, Unterstützung bei Wohnungssuche, Einschulung von Kindern. Gemäß einer aktuellen Studie hat es das Vereinigte Königreich in den Jahren 2001 bis 2004 geschafft, mithilfe aktiver Rekrutierungsmaßnahmen pro Jahr etwa 15.000 Pflegekräfte anzuwerben.
Ferner sind Maßnahmen zu ergreifen, um die Pflege von pflegefremden beziehungsweise pflegefernen Tätigkeiten zu entlasten. Eine wichtige Rolle wird dabei künftig der Ausbau der technischen Assistenz spielen, unterstützt durch die aufkommende Digitalisierung und technische Hilfen. Einen sehr großen Effekt auf den Personalbedarf würde generell die Reduktion der Zahl der stationären Patienten haben. Hierunter fallen Themen wie die sektorenübergreifende Versorgung, die Ambulantisierung von Leistungen, die bessere Organisation der Notfallversorgung, die bessere Steuerung der Patienten.
Schlechte Qualität sollte „abgestraft" werden
Insgesamt ist davon abzuraten, zusätzliche Vorgaben an Mindestbesetzungen in der Pflege zu schaffen. Sie würden den Fachkräftemangel noch erhöhen und können zu einer Fehlallokation knapper Fachkräfte führen. Sollte eine Unterbesetzung zu mangelhafter Qualität bei Krankenhausleistungen führen, sind stattdessen Maßnahmen zu empfehlen, die direkt an der Qualität für den Patienten ansetzen. Es ist dann die Aufgabe des Krankenhauses, diese durch eine dafür adäquate Kombination der Ressourcen Personal, Sachmittel und Kapital zu erreichen und aus den damit erzielten Erlösen zu finanzieren.
Zentrale Frage ist damit, welche Qualität – einschließlich der pflegerischen Betreuung – beim Patienten ankommt und wie stark der Beitragszahler durch die Erbringung dieser Qualität belastet wird, also wie die Kosten-Nutzen-Relation aussieht. Hierzu ist der weitere Ausbau der Qualitätstransparenz erforderlich. Das Krankenhausstrukturgesetz (KHSG) hat hierzu bereits entsprechende Weichen gestellt. Der Fokus muss dabei auf Ergebnis- und Indikationsqualität liegen. Wer dann wegen mangelhafter Pflege schlechte Qualität liefert, wird über die Qualitätstransparenz „abgestraft", soweit es gelingt, diese nachfragewirksam zu kommunizieren.
Ergänzend nutzbar wären Maße zur Pflegequalität. Dazu gehören auch eher subjektiv empfundene Indikatoren wie die Patientenzugewandheit, die von einzelnen Krankenhäusern bereits eingesetzt werden. Sie könnten vom IQTIG weiterentwickelt und standardisiert werden. Auch könnte eine angestrebte künftige qualitätsorientierte Vergütung um Aspekte der Pflegequalität ergänzt werden.
Autoren:
Prof. Dr. Boris Augurzky, Leiter des Kompetenzbereichs „Gesundheit" Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen, E-Mail: Boris.Augurzky@rwi-essen.de
Prof. Dr. Ansgar Wübker, Stellvertretender Leiter des Kompetenzbereichs „Gesundheit" am RWI
Dr. Christian Bünnings, Wissenschaftler im Kompetenzbereich Gesundheit am RWI