Medizinprodukte-Richtlinie MDR

Die Zeit wird knapp

  • Medizintechnik
  • Technologie
  • 29.10.2018

f&w

Ausgabe 11/2018

Seite 1062

Die holprige Umsetzung der europäischen Medizinprodukteverordnung (MDR) stellt die Medizintechnikhersteller vor eine große Herausforderung. Unternehmen, aber auch Leistungserbringer brauchen eine eindeutige Klarstellung und Kommunikation seitens der Politik.

Im Mai 2017 trat die neue Medizinprodukte-Richtlinie (MDR) in Kraft. Die neue Verordnung löst die alte Medical Device Directive (MDD) und die Active Implantable Medical Device Directive (AIMDD) ab, die jedoch bis zum Ablauf einer Übergangsphase im Mai 2020 parallel angewendet werden dürfen. 175 Seiten regeln das sogenannte EU-Konformitätsbewertungsverfahren zum Erhalt des „CE-Zeichens“, weitere 17 Anhänge spezifizieren, wie sich das Verfahren gestalten soll. Trotz des großen Umfangs der Verordnung werden – leider typisch für das komplexe Gesetzgebungsverfahren der EU – für die Ausgestaltung signifikanter Details und technischer Spezifikationen durchführende Rechtsakte erlassen. Bis zum heutigen Tag wurden erst zwei von insgesamt acht erwarteten notwendigen Rechtsakten veröffentlicht, die für eine reibungslose und rechtssichere Implementierung der neuen Verordnung notwendig sind.

In Europa sind rund 500.000 Medizinprodukte auf dem Markt. Experten gehen davon aus, dass circa 314.000 Produkte nach der neuen Verordnung (re)zertifiziert werden. Nur dann dürfen sie nach Ablauf sämtlicher Übergangsfristen in Europa angewendet werden. Die besondere Herausforderung dabei: Eine deutlich verringerte Anzahl von sogenannten Benannten Stellen (zum Beispiel TÜV) wird diese Aufgabe erfüllen müssen. Es wird gemeinhin erwartet, dass die Zahl verfügbarer Medizinprodukte in Europa auch aufgrund von Portfolio-Bereinigungen der Hersteller abnimmt.

Die wichtigsten Regelungsbereiche der neuen Verordnung betreffen unter anderem die Einordnung von Medizinprodukten in sogenannte Risikoklassen, die Anforderungen an klinische Evidenz, die Einführung des Scrutiny-Verfahrens zur weiterführenden Prüfung bestimmter Produktgruppen, die Neudefinition des Aufgabenkatalogs der mit der Prüfung beauftragten Benannten Stellen und die Anforderungen an die technische Dokumentation durch die Hersteller.

Fehlende Benannte Stellen

Eine weitreichende und bedeutende Neuerung ist zudem die Einführung einer neuen elektronischen Datenbank (Eudamed) innerhalb der EU, die zukünftig den gesamten Produktlebenszyklus überwachen und transparent machen soll. Dazu gehören ein elektronisches Vigilanz- und Marktüberwachungssystem, die Registrierung von Wirtschaftsakteuren und Produkten sowie die UDI-Datenbank (Unique Device Identification – UDI) zur Rückverfolgbarkeit von Medizinprodukten. Drei große Herausforderungen bei der Umsetzung der Medizinprodukteverordnung liegen, neben der technisch komplexen Einführung der Eudamed-Datenbank, in der Neu-Benennung der Benannten Stellen, der fehlenden Allokation notwendiger Ressourcen zur Erstellung der dringend benötigten Rechtsakte sowie den kurzen Übergangsfristen.

Ein voll funktionstüchtiges System der Benannten Stellen mit ausreichenden Kapazitäten zur rechtzeitigen Bewältigung der Arbeitslast in Zusammenhang mit dem derzeitigen und dem künftigen Rechtsrahmen ist unerlässlich, damit Patienten, Krankenhäuser, Labore und Gesundheitssysteme ununterbrochen Zugang zu sicherer und innovativer Medizintechnik haben. Bis Ende Juni 2018 hatten nach Aussage der EU-Kommission von ursprünglich 59 Benannten Stellen nur rund ein Drittel beantragt, nach der neuen Verordnung prüfen zu dürfen. Die Neu-Benennung der Benannten Stelle dauert aufgrund der Komplexität der MDR im Schnitt rund 18 Monate. Es ist fraglich, ob bis Mai 2020 ausreichend Kapazitäten für das Konformitätsbewertungsverfahren vorhanden sind.

Große Herausforderungen

Es sind in erster Linie kleine und mittelständische Unternehmen (KMU), die die Sorge umtreibt, bei der Re- beziehungsweise Neuzertifizierung ihrer Produkte auf der Strecke zu bleiben und nachrangig behandelt zu werden. Der erhöhte Dokumentationsaufwand und die umfassenden neuen klinischen Anforderungen sind aufgrund fehlender Personalkapazitäten für KMU ebenfalls deutlich schwieriger umzusetzen. Vor dem Hintergrund der heterogenen Branchenstruktur der Medtech-Industrie besteht hier die Gefahr, dass zahlreiche Unternehmen vom Markt verschwinden. Um dieser Entwicklung entgegenzusteuern, hat die Wirtschaftsministerkonferenz der Länder im Juni 2018 eine Reihe von Forderungen in ihre Beschlüsse aufgenommen, die unter anderem die Bundesregierung auffordern, bei der EU auf eine Verlängerung der Übergangsfristen zu drängen. Erschwerend kommen offene Fragen und Unsicherheiten durch den EU-Austritt Großbritanniens hinzu – etwa ob Zertifizierungen britischer Benannter Stellen weiterhin möglich sind oder anerkannt werden. Die neue Verordnung stellt die zuständigen nationalen Behörden, die benennenden Behörden und die Agenturen sowie mindestens zwei Generaldirektionen der Europäischen Kommission in Sachen Ressourcen vor bedeutende Herausforderungen. Ohne eine transparente und zeitnahe Verabschiedung der dringend notwendigen durchführenden Rechtsakte droht Chaos – mit zweifelsohne möglichen negativen Auswirkungen auf die Patientenversorgung mit lebensnotwendigen Medizinprodukten. Alle relevanten Interessenträger und Akteure haben nachweislich Bedarf an einer Klarstellung und an einer konsequenten Anwendung der zahlreichen Übergangsregelungen, die im Rahmen der Übergangsfristen vorgesehen sind. Alle Akteure sind darauf angewiesen, dass die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten der Europäischen Union ihre volle Unterstützung für eine nachvollziehbare und einheitliche Interpretation der Regelungsinhalte zusichern. Bereits heute zeichnet sich ab, dass zum Beispiel die vorgesehenen Übergangsfristen für die Implementierung zu knapp bemessen sind und die Neu-Benennung der Benannten Stellen, die Harmonisierung von existierenden Standards sowie der Aufbau der EU-Datenbank Eudamed deutlich mehr Zeit benötigen.

Mögliche Alternativen

Eine denkbare Lösung wäre, dass die EU einen „Stop-the-clock“-Mechanismus verabschiedet, der die verbleibende Zeit für die Implementierung anhält, bis das komplette System zur Inverkehrbringung von Medizinprodukten alle notwendigen Maßnahmen dafür ergriffen hat. Alternativ könnte über die Verlängerung des Geltungsbeginns (Mai 2020 für die MDR) nachgedacht werden.

Dr. Meinrad Lugan, Vorstand der B. Braun Melsungen AG und Vorstandsvorsitzender des Bundesverbands Medizintechnik (BVMed), bringt die Herausforderungen für die Industrie auf den Punkt: „Die neuen klinischen Anforderungen sowie die umfassenden Dokumentations- und Berichtspflichten stellen uns als Medizintechnikbranche vor erhebliche Herausforderungen – Aufwand und Zeit von Innovation bis zur Anwendung am Patienten steigen in unakzeptabler Weise ohne belegbaren Nutzen für Sicherheit oder Wirksamkeit.“ Die Gesundheitsbranche benötigt deshalb eine eindeutige Klarstellung und Kommunikation seitens der Kommission und der Mitgliedstaaten, um sicherzustellen, dass alle relevanten Interessenträger die Übergangsfristen und die weitere Gültigkeit der CE-Kennzeichnung im Rahmen der geltenden Richtlinien verstehen, annehmen und anwenden. Andernfalls entsteht ein Flaschenhals mit unerwünschten Verzögerungen bei der Verfügbarkeit von Medizinprodukten. Eine solche Verschlechterung der Patientenversorgung muss vermieden werden.

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