Dr. Ursula und Dr. Petra Becker sind mit dem Familienunternehmen groß geworden und haben es als Erwachsene selbst als Geschäftsführerinnen übernommen. Ihre Aufgaben in der Dr. Becker Klinikgruppe haben sie entsprechend ihrer unterschiedlichen Stärken aufgeteilt. Grundsätzlich ziehen die beiden Schwestern aber an einem Strang – und oft ist das Gesundheitswesen mit seinen starren Strukturen viel zu langsam für all ihre Ideen.
„Kurklinik zu verkaufen.“ Marie-Luise und Dr. Ernst Becker sitzen eines Morgens im Jahr 1976 beim Frühstück, als sie diese Anzeige in der Welt am Sonntag lesen. Ihre beiden Töchter Ursula und Petra sind damals zwölf und acht Jahre alt. Eigentlich soll Ernst Becker, ehemaliger Oberkreisdirektor und Geschäftsführer der Sauerlandklinik, nach einem Herzinfarkt etwas kürzer treten. Doch mit dieser Anzeige beginnt sie, die Geschichte der Dr. Becker Kliniken.
Im Oktober 1977 geht die erste Einrichtung, die Suchtklinik in Bad Essen, in Betrieb. Das Ehepaar führt geschäftstüchtig und mit kluger Hand, kauft weitere Kliniken dazu und sucht am Wochenende auf Trödelmärkten nach besonderen Ausstattungsstücken, um die Häuser etwas persönlicher zu gestalten. Der Fall der Mauer und die damit verbundene Ausweitung auf die neuen Bundesländer, die Reha-Krise aufgrund der Seehofer-Reformen – das Auf und Ab der Branche lässt sich an der Entwicklung der Dr. Becker Kliniken ablesen. Die Eltern pendeln zwischen ihren Einrichtungen und dem heimischen Arnsberg, jede Klinik soll eigentlich die letzte sein, ist sie jedoch nicht – für ein klassisches Familienleben bleibt wenig Zeit. Als Mangel haben das die Töchter nie empfunden. „Unser Wohnzimmer war quasi die Unternehmenszentrale“, erinnert sich Petra Becker. „Es kam vor, dass ein Chefarztkandidat zum Vorstellungsgespräch bei uns auf dem Sofa saß.“ Nie haben die Eltern ihre Töchter gedrängt, ebenfalls ins Unternehmen einzusteigen. „Ganz geschickt haben sie uns immer wieder mal in Kliniken mitgenommen“, erzählt Ursula Becker. Und Vorbild seien sie gewesen in ihrem respektvollen und gleichberechtigten Umgang miteinander. Zwei sehr unterschiedliche Persönlichkeiten, der oft vor Energie übersprühende Vater, die Mutter, die ihn dann vernünftig bremste.
Einstieg ins Familienunternehmen
Die Töchter gehen nach dem Abitur ihre eigenen Wege. Ursula studiert Jura und BWL, promoviert dann in Münster. „Ich wusste damals noch nicht so richtig, wohin ich wollte“, sagt sie. Mitte der 90er-Jahre arbeitet sie doch im Unternehmen der Eltern mit. Damals erlebt die ältere Becker-Tochter ein spannendes Phänomen: „Die männlichen Geschäftsführer hatten regelrecht Panik, dass meine Schwester und ich ins Unternehmen einsteigen könnten. Von uns Mädels wollten sie sich nichts sagen lassen.“
Petra Becker studiert Wirtschaftsingenieurwesen, promoviert in Hamburg, geht als Managementberaterin zu McKinsey – und arbeitet mehrere Jahre lang an zwei Fronten: Teilzeit für die Unternehmensberatung und Teilzeit für das Becker‘sche Familienunternehmen. Dass letztlich dann doch beide Schwestern in die Fußstapfen der Eltern getreten sind, sei eine bewusste Entscheidung aller Beteiligten gewesen. Der Geschäftsführer verließ 1997 überraschend das Unternehmen, es musste schnell gehandelt werden: „Meine Eltern wollten nicht mehr, und die Suche nach einem neuen Geschäftsführer hätte in der damaligen Krisensituation zu viel Zeit in Anspruch genommen“, erzählt Ursula Becker. „Mein Mann hat mir damals geraten, die Chance zu nutzen, so lange ich vom Know-how der Eltern profitieren konnte.“
Mit der Übergabe zogen sich die Eltern vollständig aus der Unternehmensleitung zurück, nie redeten sie den Töchtern in die Arbeit hinein. Beratend standen sie ihnen jedoch immer zur Seite. Zwei Jahre später steigt auch Petra Becker in die Geschäftsführung ein. „Irgendwann kam die Frage, welchen Weg ich weiter gehen wollte“, erzählt sie. „Ganz klar wollte ich etwas gesellschaftlich Sinnvolles zu tun, da lag die Entscheidung nahe.“
Außenministerin und Innenministerin
Petra und Ursula Becker ähneln sich auf den ersten Blick nicht. Wer sie nicht kennt, würde sie nicht für Schwestern halten. Sie wissen um ihre Unterschiedlichkeit und haben die Aufgaben im Unternehmen entsprechend aufgeteilt. Ursula Becker, die Extrovertierte, vielleicht Kontaktfreudigere, Beharrlichere, präsentiert das Unternehmen bei Politik, Verbänden und Kostenträgern. Bei Veranstaltungen der Branche ist sie eine gern gesehene Rednerin und im Oktober vergangenen Jahres startete sie eine Gesprächsoffensive mit Politikern, weil man die Reha beim Pflegepersonal-Stärkungsgesetz außen vor gelassen hatte. Petra Becker, die Analytische, vielleicht Ruhigere, Strukturiertere, ist im Unternehmen für Rechnungswesen, Controlling, Qualitätssicherung und die EDV zuständig.
Die Laute, die Leise – natürlich sind das Stereotype, die so niemals immer zutreffen. Richtig ist, dass sie sich ihre Aufgabenbereiche ihren Talenten entsprechend ausgewählt haben. „Das ist auch gut so“, sagt Ursula Becker. „Jede will für ihre Bereiche das Richtige tun.“ Augenzwinkernd haben sie sich selbst die „Titel“ Außenministerin und Innenministerin gegeben. Dass die beiden auch im Geiste Schwestern sind, beweist das gute Standing der Dr. Becker Kliniken und das Klima im Unternehmen. „Man kann sich immer absolut aufeinander verlassen“, sagt Ursula Becker. „Wir streiten uns nicht“, sagt Petra Becker. „Wir diskutieren, aber eine echte Meinungsverschiedenheit, die zur Auseinandersetzung geführt hätte, gab es nie.“ Man sei schließlich miteinander aufgewachsen, kenne sich sehr gut. Trifft eine der beiden eine Entscheidung, habe sie gute Gründe dafür. „Zugrunde liegt bei uns immer ein gemeinsames Verständnis von Unternehmensführung“, sagt Petra Becker. Es gehe nicht ums Ausüben von Macht, darum Recht haben zu wollen. „Wir haben sehr tief verinnerlicht, einen respektvollen Umgang miteinander zu pflegen. Dass es wichtig ist, Verantwortung zu übernehmen, und dass es nicht nur den einen goldenen Weg zum Ziel gibt.“ Das gilt für das gesamte Unternehmen: Transparenz, Augenhöhe, das Hinterfragen von Prozessen – die Mitarbeiter würden es schätzen, ihre eigene Expertise einbringen zu können, erzählt Petra Becker.
Bei der Digitalisierung weit vorn
Die Dr. Becker Kliniken heute – das sind 1.900 Mitarbeiter, neun Reha-Kliniken und drei ambulante Therapiezentren, in denen jährlich etwa 22.000 Patienten behandelt werden. In einer Villa im noblen Kölner Stadtteil Marienburg hat das Unternehmen seine Zentrale. Beide Schwestern leben ganz in der Nähe. Die Geschäftsführung teilen sie sich mit Bastian Liebsch und Tobias Hummel.
Die Dr. Becker Einrichtungen sind bei Patienten beliebt, schneiden bei Qualitätsrankings sehr gut ab, gelten als innovativ und sind bei der Digitalisierung für den Reha-Bereich weit vorn. Immer gehören die Kliniken zu den besten zehn Prozent der Branche. „Weil wir uns bewegen und wach bleiben“, erzählt Petra Becker. „Nachdem wir das Unternehmen übernommen haben, war es sehr wichtig, Veränderungen umzusetzen.“ Denn Reha heute sei etwas ganz anderes als die eher vorsorgeorientierte Kur in den 90er-Jahren. Die Anforderungen an eine Klinik seien in den vergangenen Jahren massiv gestiegen: mehr Regulatorik, höhere Therapiestandards, anspruchsvollere Erwartungen der Patienten. „Heute kommen schwerere Fälle in die Reha. Darauf muss man eingestellt sein“, sagt Ursula Becker. Und auch der Anspruch an die Mitarbeiter sei gestiegen. „Die Sparrunden haben zwar zu einer Professionalisierung geführt, aber auch zu strengeren Strukturen. Da gibt es kaum noch die Freiheit, sich wirklich Zeit für den Patienten zu nehmen.“ Es sei wichtig zu zeigen, was die Arbeit in einer Reha-Klinik dennoch attraktiv für Arbeitnehmer mache, ergänzt Petra Becker. Zum Beispiel sind das neben einem angenehmen Arbeitsklima sinnvolle, regelmäßige Fortbildungsangebote.
Ihren Führungsstil beschreibt Petra Becker als lösungsorientiert, nicht hierarchisch. „Mir ist es wichtig, dass Mitarbeiter verstehen, wie ich über Probleme denke, diese dann aber selbst lösen.“ Die wichtigste Aufgabe sei, das effiziente, beste Ergebnis für den Patienten zu erzielen. Die offene Diskussion, den Austausch schätzt Ursula Becker. „Die Vielfalt der Talente und Meinungen bringt meist die besseren Ergebnisse“, sagt sie. Ihr besonderes Steckenpferd ist die Healing Architecture. „Es geht darum, Gebäude und Räume so zu gestalten, dass diese den Reha-Erfolg unterstützen und auch den Mitarbeitern das Arbeiten angenehmer machen. Da müssen wir kontinuierlich in unsere Immobilien investieren.“
Eine gemeinsame Vision teilen
Für das Unternehmen teilen beide eine gemeinsame Vision: „Wir wollen die Reha des 21. Jahrhunderts mitgestalten, neue Therapieformen einsetzen, auch Einfluss am Markt ausüben – all das immer patientenorientiert“, sagt Petra Becker. Die Zukunft werde sicher noch schwerere Fälle, ältere, kränkere Patienten in schlechterer Verfassung, in die Reha-Kliniken bringen. Darauf wollen sie das Unternehmen vorbereiten. Die Reha des 21. Jahrhunderts, das bedeute unter anderem, schon vor der Reha mit dem Patienten in Kontakt zu treten, es während der Reha auch auf digitalem Wege zu bleiben und die Verbindung nach dem Aufenthalt nicht zu verlieren.
Gewünschte Agilität versus starre Strukturen
Oft ist das Gesundheitswesen aber zu langsam für die beiden Schwestern. Viele Vorhaben scheitern immer noch an der Bürokratie. Da sei es manchmal schon ein Problem, in allen Kliniken WLAN am Patientenbett zu bekommen. „Wir können oft gar nicht die Agilität an den Tag legen, die wir gern hätten. Grund dafür sind die unglaublich starren Strukturen“, sagt Petra Becker. Zum Beispiel hätten die Dr. Becker Kliniken schon längst Activity Tracker eingeführt. Doch dafür stellen die Kostenträger keine finanziellen Mittel bereit. „Wir machen ja schon sehr viel in Richtung Digitalisierung, aber Ideen haben wir noch viel mehr.“
„Meine größte Sorge ist – und die teile ich mit vielen Kollegen –, dass die Rehabilitation auf Kosten des stationären Sektors ausgeweidet wird“, sagt Ursula Becker. „Dabei behandelt Reha umfassend und ganzheitlich nach dem biopsychosozialen Krankheitsmodell. Sie ist eine so wichtige Säule, die zu wenig beachtet wird.“ Man müsse jetzt daran arbeiten, die Rahmenbedingungen zu verbessern. „Wir müssen weiter laut sein, damit die Reha mit dem, was sie leistet, wahrgenommen wird.“
Ein Stereotyp trifft dann doch zu, und zwar auf beide Schwestern: Sie sind echte Powerfrauen. Doch auch die brauchen mal Urlaub. Im Flieger nach Mallorca oder Bus nach Österreich sitzen dann: Marie-Luise Becker (85), Ursula Becker mit ihrem Mann, ihrer Tochter (18) und ihrem Sohn (16) und Petra Becker mit ihrem Mann und den drei Kindern (12, 13, 14).
Dr. Petra Becker, Jahrgang 1968, studierte von 1987 bis 1992 Wirtschaftsingenieurwesen an der Universität Karlsruhe (TH). Von 1992 bis 1995 absolvierte sie ihr Promotionsstudium zum Dr. rer. pol. am Graduiertenkolleg „Europäische Integration“ in Hamburg. In den Jahren 1995 bis 2001 war sie als Beraterin bei McKinsey & Company tätig, zuletzt als Engagement-Manager. Seit 2001 ist Petra Becker geschäftsführende Gesellschafterin der Dr. Becker Unternehmensgruppe. Mit ihrem Mann hat sie drei Kinder.
Dr. Ursula Becker, Jahrgang 1964, studierte von 1983 bis 1991 Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in Köln. 1996 promovierte sie zum Dr. rer. pol. an der Universität Münster. Von 1991 bis 1995 arbeitete sie als Assistentin der Geschäftsführung der KSG Klinik Servicegesellschaft. 1995 wurde sie geschäftsführende Gesellschafterin der Dr. Becker Unternehmensgruppe. Ursula Becker ist verheiratet und hat zwei Kinder.