Bürokratieabbau

Den Teufelskreis durchbrechen

  • Strategie
  • Titel
  • 15.12.2022

f&w

Ausgabe 12/2022

Seite 1084

Dr. Gerald Gaß

Wer Bürokratie nachhaltig abbauen will, braucht keine neuen Kommissionen, sondern muss sich mit der ausgeprägten Misstrauenskultur im Gesundheitswesen und seiner Selbstverwaltung befassen – wie auch mit dem Regulierungsanspruch der Politik.

Auf Platz eins der Evergreens gesundheitspolitischer Forderungen steht ohne Zweifel unangefochten das Thema sektorenübergreifende Versorgung. Ebenso unbestritten folgt dann aber auf Platz zwei bereits die Forderung nach einem Bürokratieabbau. Interessanterweise ist dies ein Thema, das keinesfalls auf das Gesundheitswesen beschränkt ist, sondern insgesamt in der Politik als echtes Problem wahrgenommen wird, aber ganz offensichtlich gleichzeitig dauerhaft zum Scheitern verurteilt ist. So war es im Jahr 2014 sogar einem verdienten bayerischen Ministerpräsidenten vergönnt, die Rolle des Sonderbürokratieabbaubeauftragten in Europa zu übernehmen. Sieben Jahre feilte Edmund Stoiber, so hört man, mit einer Expertengruppe an dieser Aufgabe und erzielte nach eigenen Aussagen geradezu revolutionäre Ergebnisse. Zentrales Ergebnis ist die Einführung eines Bürokratiechecks bei europäischen Vorhaben. Das kennen wir auch bei unserer nationalen Gesetzgebung.

Wer sich aber die Mühe macht und die in Gesetzgebungsvorhaben regelmäßig aufgelisteten Bürokratiekosten nachliest, bricht entweder in schallendes Gelächter aus oder verfällt in tiefe Depression ob der Ignoranz der Autoren über den tatsächlichen bürokratischen Aufwand ihrer Gesetze. Im Gesundheitswesen sind die unmittelbaren Gesetzesfolgen aber grundsätzlich nur die erste Stufe der Regulierung, denn regelmäßig folgen daraus die weiteren Regulierungen resultierend aus den Vereinbarungen der Selbstverwaltung.

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In der Dezember-Ausgabe von f&w führen und wirtschaften im Krankenhaus berichten wir in einem Schwerpunkt über das Thema Bürokratieabbau im Krankenhaus, unter anderem mit Gastbeiträgen von Wulf-Dietrich Leber (GKV-Spitzenverband), Reinhard Schaffert (Klinikverbund Hessen) und Erika Raab (DGfM).

Der Ärzteverband Marburger Bund klagt in diesen Tagen über einen „Bürokratie-Irrsinn“ in den Kliniken und fordert Regierung und Krankenkassen zum sofortigen Umsteuern auf. „Trotz jahrelanger Bekenntnisse zum Bürokratieabbau wird der Dokumentationsaufwand immer absurder. Es ist zum Verzweifeln, das raubt uns Zeit, die wir nicht haben“, sagte die Vorsitzende des Marburger Bundes, Dr. Susanne Johna. Problem erkannt, Problem gebannt könnte man meinen, wenn man den Ampelkoalitionsvertrag liest: Durch ein Bürokratieabbaupaket bauen wir Hürden für eine gute Versorgung der Patientinnen und Patienten ab. Die Belastungen durch Bürokratie und Berichtspflichten jenseits gesetzlicher Regelungen werden kenntlich gemacht, so heißt es im Koalitionsvertrag der Bundesregierung. Auch die mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz auf den Weg gebrachte Verpflichtung des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), bis zum 30. September 2023 Empfehlungen zum Bürokratieabbau im Gesundheitswesen zu erarbeiten, gibt zunächst Anlass zur Hoffnung.

Ständig neue Regulierung

Doch die Erfahrung lehrt: Bürokratieabbaukommissionen gelingt nach mühevoller Durchforstung der betreffenden Regularien bestenfalls eine zeitweise Rückführung bestimmter Dokumentationspflichten, ohne allerdings wirklich etwas an der Überregulierung des betreffenden Politikfelds erreicht zu haben. Besonders frustrierend dabei ist, dass parallel zur Arbeit dieser Kommissionen fortlaufend neue Regulierungen das Licht der Welt erblicken, denn es müssen ja ständig neue tatsächliche oder vermeintliche Probleme und Fehlentwicklungen gerade im deutschen Gesundheitswesen durch feinziselierte Eingriffe korrigiert werden.

Was ist denn eigentlich Bürokratie? Und noch viel schwieriger: Was ist überflüssige Bürokratie, die ja unbestritten von allen als zwingend abzubauen angesehen wird? Man muss zunächst zwischen Dokumentationen und Nachweispflichten unterscheiden, die einen entscheidenden Nutzen zur Verbesserung des Behandlungsprozesses, sprich den therapeutischen Erfolg bringen, und denen, die hier offensichtlich keinen angemessenen Mehrwert in dieser Frage liefern. Bei diesem zweiten Bereich muss ergänzend die Frage erörtert werden: Wozu dienen diese Vorgaben und Regulierungen, wenn sie keinen erkennbaren Nutzen bei Behandlungsqualität und Patientensicherheit bringen? Über diesen prioritären Nutzen hinaus gibt es weitere legitime Bewahrungsgründe, wie zum Beispiel die effiziente Ressourcennutzung (Leistungsabrechnung), die Legitimation bestimmter Handlungen (Haftungsfragen) und das Vermeiden doloser Handlungen.

Diese Differenzierung ist wichtig, denn Entbürokratisierung ist kein Selbstzweck. Es geht im Kern um die Entlastung des Personals mit dem Ziel, deren Ressourcen für die Kernaufgabe eines Krankenhauses einsetzen zu können. Aus Sicht der Mitarbeiter sind deshalb auch notwendige Dokumentationspflichten dann eine überflüssige Belastung, wenn dazu aufwendige händische Prozesse erforderlich sind, obwohl digitale Verfahren zur Verfügung stünden. Niemand wird ernsthaft die Frage stellen, ob der gemessene Blutdruck oder die Laborwerte in der Patientenakte zu dokumentieren sind. Die Frage dabei ist, warum sind wir nicht längst in der Lage, flächendeckend derartige Dokumentationen automatisiert von den betreffenden diagnostischen Medizingeräten in die Patientenakte zu transferieren.

Wirklich ärgerlich sind aber bürokratische Vorgaben und Dokumentationspflichten, die jenseits des unmittelbaren Nutzens für die Patientinnen und Patienten liegen oder zum Zwecke wirklich erforderlicher Administration erhoben, dokumentiert und in vielfacher Hinsicht auch prüfungsfest dargelegt werden müssen. Dies sind die wahren bürokratischen Ärgernisse, die wir unbedingt konsequent reduzieren müssen, wenn wir über das Thema Bürokratieabbau sprechen. Überflüssige Bürokratie kennen wir bei kleinteiligen OPS-Vorgaben und den daran anknüpfenden Prüfungen des Medizinischen Dienstes (MD). Die Komplexität und Kleinteiligkeit unseres Abrechnungssystems erfordert Dokumentationspflichten, die nur noch bedingt zu rechtfertigen sind. Besonders augenscheinlich wird dieses Missverhältnis bei der psychiatrischen Vergütung. Während die Gewichtungsfaktoren im DRG-System zum Teil gewaltige Unterschiede aufweisen, tendieren die psychiatrischen Kliniken bei ihren PEPP-Abrechnungen weitgehend um einen Mittelwert, der den dahinterstehenden Aufwand zur ehemals erwarteten Differenzierung mehr als zweifelhaft erscheinen lässt. Ähnliches gilt für die diversen Personalstrukturvorgaben, die zum Teil schichtgenau die Personalbesetzung in allen Stationen erfassen und mit einem normierten Besetzungsmaß ins Verhältnis setzen.

Zum Scheitern verurteilt

Lässt sich diese beschriebene Form von überflüssiger Bürokratisierung realistischerweise durch Kommissionen oder noch so gut gemeinte politische Initiativen aus dem Weg räumen? Die Antwort lautet eindeutig: Nein. Aus meiner Sicht sind derartige Vorhaben zum Scheitern verurteilt, denn sie verkennen in aller Regel den eigentlichen Grund für diese Form der fragwürdigen Bürokratie. Unter dem Deckmantel der Patientensicherheit sollen Pflegepersonaluntergrenzen tatsächlich stationäre Kapazitäten reduzieren, um auf diesem Weg Stationen, Abteilungen und Krankenhausstandorte zu reduzieren. Kleinteilige OPS-Vorgaben leisten erkennbar keinen Nutzen für die Behandlungsqualität, vergrößern aber die Erfolgsaussichten der auf Vergütungskürzungen ausgerichteten Abrechnungsprüfungen enorm. Auch gibt es null Erkenntnisse, dass die Einführung des PEPP-Systems in der Psychiatrie irgendeinen relevanten Vorteil für die Patientenversorgung gebracht hat. Über die Psychiatrierichtlinie (PPP-RL) des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) wollen wir jetzt lieber gar nicht sprechen. Wer Bürokratie nachhaltig abbauen will, muss sich mit der ausgeprägten Misstrauenskultur innerhalb des Gesundheitswesens und seiner Selbstverwaltung ebenso befassen wie mit dem Regulierungsanspruch der Politik. Dort wo die Krankenhausvertreter auf der einen Seite für möglichst viel Flexibilität und unternehmerische Freiheit plädieren, sind die Krankenkassen bemüht, durch kleinteilige Regelungen und Vorgaben eben diese Flexibilität und unternehmerische Freiheit einzuschränken, weil sie die Sorge haben, dass die Leistungserbringer ansonsten ihre Angebote zulasten der Krankenkassen über das bedarfsnotwendige Maß hinaus ausdehnen. Eine zugegebenermaßen nicht ganz unberechtigte Sorge, die aber systemimmanent durch die allseits bekannten Anreize unseres Finanzierungssystems ausgelöst wird. Solange Krankenhausträger gezwungen sind, Investitionsmittel über Leistungsentgelte zu erwirtschaften, die Finanzierung der Vorhaltekosten nicht zum eigentlichen Versorgungsauftrag der Kliniken passt und jedes Jahr bei der Preisentwicklung Produktivitätsfortschritte eingefordert werden, wird es bei der Bürokratie weitergehen wie bei dem Hasen und dem Igel.

Neben diesen systembedingten Bürokratielasten folgt der Aufwuchs der Bürokratie im Gesundheitswesen auch dem politischen Prinzip, Probleme dadurch zu lösen, dass für jedes vermeintliche Einzelproblem Einzellösungen erfunden werden. Und so wird Regulierung auf Regulierung gesetzt und jede Regulierung führt wiederum zu unerwünschten Nebenwirkungen, die durch ein neues Regulierungsgeschehen ausgeglichen werden müssen. Ein Teufelskreis, der nur dann ernsthaft durchbrochen wird, wenn wir uns bei der Problemlösung auf die systematischen Fehlentwicklungen konzentrieren und dann innerhalb des Systems selbststeuernde Anreize implementieren.

Es gibt Vorbilder

Doch bei allem Pessimismus, es gibt auch hoffnungsvolle Beispiele wie Bürokratieabbau gelingen kann, wie unternehmerische Freiheit und Flexibilität im Interesse der Patientinnen und Patienten und auch der Krankenkassen eingesetzt werden können. Dies können wir bei den Modellprojekten in der Psychiatrie beobachten, wo sich eine ganze Reihe von Kliniken gemeinsam mit Krankenkassen auf sogenannte Regionalbudgets verständigt haben, bei denen die vorhandenen finanziellen Mittel nach bestimmten Zielen für die Patientinnen und Patienten eingesetzt werden. Vielfach sind in diesen Modellvorhaben bürokratische Vorgaben und kleinteilige Regulierungen bewusst ausgesetzt, um den Krankenhäusern die unternehmerische Freiheit und Flexibilität zu gewähren, das zur Verfügung stehende Budget im Interesse einer guten Patientenversorgung in der Region einzusetzen. Selbstverständlich sind die Voraussetzungen in der Psychiatrie andere als in der Somatik, aber dennoch können wir von diesen und internationalen Erfahrungen lernen, dass gute Patientenversorgung und effiziente Mittelverwendung möglich sind, wenn die Vertragspartner Anreize implementieren, die quasi selbststeuernd auf die gewünschten Ergebnisse hinwirken. Dann erübrigen sich viele Prüfungsprozesse und kleinteilige Vorgaben, die im Übrigen deutlich weniger effizient in der Steuerung sind als kluge finanzielle Anreize.

Ich hoffe, dass sowohl die Selbstverwaltung wie auch die Politik erkennen, dass sie mit der bloßen Ankündigung, Dokumentationen und Bürokratie zurückdrängen zu wollen, nicht erfolgreich sein werden, wenn sie ihren Umgang mit der Steuerung des Gesundheitssystems nicht verändern. Wir brauchen Politiker, die wieder ganzheitlicher denken und sich nicht in Einzellösungen verlieren. Wir brauchen eine Selbstverwaltung, die ihre Möglichkeiten nutzt, um die richtigen Anreize für die Vertragspartner zu finden.

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