Seit unser Gesundheitsminister seinen Reformvorschlag mit dem Schlagwort „Entökonomisierung“ Talkshow-kompatibel attribuiert hat, treibt es mich nach 25 Jahren als Verantwortlicher in der Gesundheitswirtschaft um.
Was setzt man dem entgegen? Wo wir doch alle wissen, wie komplex das System (geworden) ist, wie schwer mit den knappen Mitteln patient:innen- und zukunftsorientiert zu haushalten ist; wie wir alle unsere Mitarbeiter:innen immer dazu angehalten haben, mit den Beiträgen der Versicherten verantwortlich, also ökonomisch, umzugehen. Und das ist jetzt ein Schmähbegriff geworden? Ich gestehe offen, als promovierter Betriebswirt, der jahrzehntelang gepredigt hat, dass gemeinnützig dennoch heißen muss, wirtschaftlich zu handeln: Ich habe schwerste Anpassungsstörungen.
Der sonntagabendliche Fernsehzuschauer hat schon längst vom Gesundheitspolitiktalk auf den Englandkrimi umgeschaltet. Seine Aufmerksamkeitsökonomie erlaubt es nicht, die so griffige und bestimmt nur zu seinem Besten gemeinte „Revolution“ des Ministers dialektisch auf Widersprüche zu untersuchen, um zu einer höheren Erkenntnis zu kommen.
ER möchte nach seinem Mediengenuss auf einem Kanal seines Vertrauens lediglich eine exzellente medizinische Behandlung bei dem Arzt seines Vertrauens. SIE will nicht auf einen Eingriff monatelang warten müssen, wenn er nötig wird. Und beide gehen selbstverständlich davon aus, dass sie keinesfalls zu den Gesundheitssystemsprengern gehören, die der Minister überflüssiger OPs geziehen hat, weil sie ihre Hüftschmerzen nicht länger erdulden wollten.
Wie das Revolutionen so an sich haben, hinterlassen sie eben einige Tote auf der anderen Seite, das sind in dem Fall zu 90 Prozent die kleineren und mittelgroßen, meist gemeinnützigen und privaten Häuser. Alle Analysen zeigen, dass – sollte es keine Konterrevolution geben – am Ende nur noch öffentliche Häuser übrig bleiben. Etwas vereinfacht, aber auch ich muss ja mit der Twitter-Zeit gehen.
Das wäre nach meiner dialektischen Logik dann die politische Maximalrendite für die derzeitigen Akteure. Hohe politische Rendite bedeutet aber auch hohes Risiko: Im Fall des Scheiterns droht die politische Insolvenz, die manche Gesundheitsminister schon anmelden mussten, weil ihnen das System entglitten war. In den vergangenen Wochen habe ich aber Mut geschöpft, denn ich zähle auf den typisch deutschen Verwaltungsbeamten. Echt!
Ich habe von Prof. Straub, dem Barmer-Chef, kürzlich gelernt, dass wir die deutsche Sozialversicherung nicht dem eisernen Kanzler Bismarck, einem Homo politicus durch und durch, verdanken, sondern einem vorausschauenden Verwaltungsjuristen und Sozialreformer im 19. Jahrhundert, den keiner mehr kennt: Theodor Lohmann. Er war der Statiker der deutschen Sozialversicherung und er nutzte die ihm als „Vortragendem Rat“ im Reichsamt des Inneren verliehene Macht, um gegen Bismarcks Willen bei der gesetzlichen Krankenversicherung die Prinzipien der Selbstverwaltung und auch der Eigenbeteiligung der Arbeiter:innen durchzusetzen. Selbstverwaltung und Subsidiarität, das bedeutet, dass sich der Staat auf kluge ordnungspolitische Rahmenbedingungen beschränkt und sich sonst raushält.
Entpolitisiert euch also – Räte aller Art, Gesundheitsexpert:innen der Länder, des Bundes und der Kommunen! Viel gescholtene Verwaltungsbeamte und Sozialrechter, Organe der Selbstverwaltung und Träger, behauptet euch selbstbewusst! Das sind wir dem besten Gesundheitssystem der Welt mindestens schuldig.