Deutschland hat große Defizite in der Patientensteuerung. Zu viele Menschen werden nicht in die richtige Versorgungsebene gelotst. Wie können Patienten besser durch das System gelenkt werden – und wer übernimmt diesen Job? Erste Einschätzungen vom DRG|FORUM 2025.
Die Unzufriedenheit der Patienten steigt – wegen steigender Krankenkassenbeiträge ebenso wie wegen der schlechter werdenden Versorgungslage. Zuletzt beklagten in einer Umfrage der Techniker Krankenkasse beinahe zwei von drei Patienten, zu lange auf Facharzttermine warten zu müssen. Das ist nur ein Indikator für die Versorgungsprobleme in Deutschland. Ein anderer sind Beschwerden von überlaufenen Arztpraxen und Notfallaufnahmen in Kliniken, die sich auch immer häufiger um Patienten kümmern müssen, die keine Notfälle sind.
Erster Kontakt per Videosprechstunde
„Der Patient findet nicht vernünftig ins System“, sagte die Leiterin der TK-Landesvertretung Hessen, Barbara Voß, auf dem DRG|FORUM am 21. März. Dabei lägen gute Konzepte zur Patientensteuerung (siehe auch Schwerpunktthema aus f&w 12/24) bei den Kassen längst in der Schublade. Das medizinische Versorgungsangebot müsse nach der Devise „digital, vor ambulant vor stationär" ausgerichtet werden: „Wir brauchen ein digitales Erstentscheidungssystem. Eine erste Hilfestellung könne auch digital erfolgen, manchmal reiche auch Selbsthilfe. „Sollte eine Behandlung aber nötig sein, muss das System auch einen Ersttermin zur Verfügung stellen und zwar gestaffelt nach Dringlichkeit.“
f&w-Podcast: Patientensteuerung
Hören Sie die wichtigsten Statements dieser Debatte in unserer neuen Podcast-Folge:
Digitale Anwendungen und Telemedizin müssen auch verstärkt im stationären Sektor zum Einsatz kommen, um Patienten besser zu steuern, betone der Vorstandsvorsitzende des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein, Jens Scholz. Während der Coronapandemie sei es nicht möglich gewesen, die Zahl der Intensivbetten in deutschen Krankenhäusern festzustellen. In Holland könne dagegen zu jeder Zeit online in Echtzeit abgefragt werden, wie viele Betten in den Krankenhäusern belegt werden können. Auch in Deutschland gebe es Best-Practice-Beispiele, wie die Schlaganfallnetze. Die Patienten werden immer in eine Klinik mit einer Neurochirurgie oder Neuroradiologie gesteuert. Sollte der Patient keine Intervention benötigen, wird er auf einer Stroke-Unit verlegt. Solche Best-Practice-Beispiele müssten zur Regel in der Versorgung werden.
Patienten in der Notaufnahmen
Eine bessere Patientensteuerung soll auch der Entlastung von Notfallaufnahmen dienen. Eine rasche Umsetzung der Notfallreform, die durch den Bruch der Ampelkoalition nicht mehr auf den Weg gebracht werden konnte, müsse nun durch die neue Bundesregierung angegangen werden, forderte der Geschäftsführer der Bayerischen Krankenhausgesellschaft, Roland Engehausen. Über die Richtigkeit und Notwendigkeit dieser Reform habe es, wie sonst selten, einen breiten Konsens gegeben. Engehausen verwies darauf, dass durch die Krankenhausreform keine Steuerungswirkung zu erwarten sei. Mit dem Scheitern des Notfallgesetzes sei eine große Chance für eine gute Patientensteuerung vertan worden.
Fraglich sei aber auch, ob es den Krankenhäusern gelingen werde, Patienten ohne dringenden Behandlungsbedarf tatsächlich abzuweisen. „Das wird die entscheidende Frage sein.“ Voß betonte dagegen, ein Krankenhaus könne in der Notaufnahme auch nur jemanden abweisen, wenn es Alternativangebote gibt. Erst wenn Videosprechstunden oder andere digitale Angebote keine Wirkung zeigten, und viele Patienten das System weiterhin falsch nutzten, könne auch über finanzielle Steuerungen nachgedacht werden: „Das kann aber nicht an erster Stelle stehen.“ In einer Situation, in der die Kassenbeiträge gerade einen Riesensprung nach oben gemacht haben und gefühlt bei vielen die Versorgung schlechter wird, sei das der falsche Weg.
Rosemarie Wehner, Senior Project Manager im Programm Gesundheit der Bertelsmann-Stiftung warnte ebenfalls vor zu strengen Regeln für Patienten. Alle Maßnahmen müssten sich an der Patientenzentrierten Versorgung orientieren, um auch weiterhin eine gute Versorgungsqualität zu garantieren. Zudem müsse erst noch ein Zielbild für die Patientensteuerung formuliert werden.
Neue Anreize für Patienten setzen
Kritisch betrachteten die Experten die freie Arztwahl in Deutschland: Ärzte-Hopping und Mehrfachuntersuchungen bedeuteten eine enorme Ressourcenverschwendung. „Dass wir es zulassen, dass Patienten zu jederzeit zu jedem Arzt gehen kann, ist nicht richtig“, sagte Scholz. Es könne nicht sein, dass Patienten Ärzte in Anspruch nehmen wollen, weil sie Krankenkassenbeiträge zahlen.
Vielmehr müssten die Leistungserbringer in Kliniken und Praxen endlich entlastet werden. Dafür brauche es Incentivelemente: „Diese Last kriegen wir nur runter, wenn es ein Umdenken bei den Patienten gibt.“ Krankenkassen könnten beispielsweise finanzielle Anreize setzen, sich für die Hausarztzentrierte Versorgung einzuschreiben. Wer weiterhin die freie Arztwahl beanspruchen will, solle auch einen höheren Kassenbeitrag zahlen.
Dass in Deutschland Anreize für die Patientensteuerung fehlen, monierte auch Engehausen. Er sieht die Verantwortung für die Patientensteuerung in erster Linie bei den Krankenkassen. Bis in die neunziger Jahre hätte das gut funktioniert, inzwischen fühle sich aber niemand mehr so richtig verantwortlich dafür, kritisiert er. Andere EU-Länder wie Dänemark oder die Niederlande sieht Engehausen diesbezüglich deutlich besser aufgestellt.
Der Fokus liegt auf den Hausärzten
Weitgehend Einigkeit bestand in dem Experten-Panel darüber, dass die Hausärzte wieder eine stärkere Steuerungsfunktion bekommen sollten. Keine Zustimmung gab es aber für die Wiedereinführung der Praxisgebühr. Die Vizepräsidentin der Bundesärztekammer, Susanne Johna, hält die Praxisgebühr als Steuerungsinstrument für gänzlich ungeeignet: „Entweder ist eine Gebühr hoch, dann hat sie eine Steuerungswirkung. Dann brauchte es aber viele soziale Ausnahmen, die alle überprüft werden müssen. Oder eine Gebühr ist niedrig, dann hat sie aber praktisch keine Steuerungswirkung“, sagte Johna. Die Praxisgebühr von zehn Euro sei allerdings nicht wegen ihrer geringen Steuerungswirkung abgeschafft worden, sondern weil die Ärzte sich massiv gewehrt hatten, die Gebühr bei ihren Patienten einzutreiben. Für die Zukunft eigne sich die Praxisgebühr daher in jeglicher Form nicht.
Das Modell der Hausarztzentrierten Versorgung ist Johna zufolge grundsätzlich der richtige Ansatz. „Gatekeeping“ sei damit allerdings nicht gemeint: Die Hausärzte sollen nicht nur einen Überweisungsschein ausstellen, sondern möglichst alle Patienten auch „fallabschließend“ behandeln. „Wir haben nicht genug Ärztinnen und Ärzte, um einem Patienten durch verschiedene ärztliche Hände zu schicken. Das können wir uns nicht mehr leisten“, betonte Johna. Allein von den 55.000 Hausärztinnen und Hausärzten bundesweit seien 40 Prozent 59 Jahre und älter. In einigen Jahren werde also die ambulante Versorgung mit deutlich weniger Medizininnen und Medizinern zu organisieren sein.
Als Positivbeispiel nannte Jona die Hausarztzentrierte Versorgung in Baden-Württemberg, die gut funktioniert habe und als Zukunftsmodell infrage käme. Nach den Krankenkassen wollen nun auch die Bundesärztekammer und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) entsprechende Konzepte vorstellen.