Steigende Beiträge, leere Kassen, keine Reformen: Die Koalition vertagt die Finanzkrise der Kassen. Ohne Sparen oder mehr Eigenbeteiligung der Versicherten bleibt sie jedoch ungelöst, warnt Tim Szent-Ivanyi.
Die Gesundheitsexperten von Union und SPD waren sich bei den Koalitionsverhandlungen schnell einig. Doch sie machten es sich einfach und vereinbarten einen Kompromiss zulasten Dritter: Steuergelder in zweistelliger Milliardenhöhe sollten einen Beitragsanstieg in der Kranken- und in der Pflegeversicherung verhindern.
Strukturreformen? Fehlanzeige. Der Kompromiss über die Milliardenzahlungen hielt nur wenige Tage, dann wurde er von den Parteiführungen wieder kassiert. Denn allen Beteiligten war klar, dass die Haushaltslage des Bundes trotz des Sondervermögens für die Infrastruktur und der vereinbarten Aufweichung der
Schuldenregel für die Verteidigungsausgaben mehr als angespannt ist. Milliarden für die Sozialsysteme wollte daher niemand versprechen, schon gar nicht SPD-Chef Lars Klingbeil, inzwischen Bundesfinanzminister.
Allerdings wussten die Verhandler sehr genau, dass es ohne Steuermilliarden auch nicht gehen wird. In der Krankenversicherung steigen die Ausgaben ungehindert deutlich schneller als die Einnahmen, sodass sich ohne gegenzusteuern die Beitragsspirale weiter drehen würde.
Anfang des Jahres hatten die Kassen ihre Beitragssätze so kräftig anheben müssen wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Sie stiegen um rund 1,2 Punkte auf ein neues Allzeithoch von durchschnittlich 17,5 Prozent.
Reformkommission erst 2027
Die geplante Kommission für Strukturreformen in der Krankenversicherung soll erst 2027 Ergebnisse vorlegen. Doch eine Regierung, die sich die Ankurbelung des Wirtschaftswachstums auf die Fahnen geschrieben hat, kann wohl kaum bis dahin die Lohnnebenkosten ungebremst steigen lassen.
Die Lage in der Pflegeversicherung ist sogar noch angespannter. Ohne Beitragserhöhung oder Steuerzuschüsse sind die Pflegekassen spätestens in diesem Herbst zahlungsunfähig.
Die neue Gesundheitsministerin Nina Warken – an den Verhandlungen nicht beteiligt – erkannte sehr schnell, dass sie ohne die Hilfe von Klingbeil auf verlorenem Posten steht. Schon bei ihrem ersten Interview wies sie auf die zu niedrigen Krankenversicherungsbeiträge des Bundes für die Bürgergeldempfänger hin. Hier gebe es eine „Schieflage“, über die man reden müsse, so die CDU-Politikerin.
Offene Rechnungen aus der Pandemie: Pflegekassen warten auf Milliarden
Nach früheren Berechnungen der Kassen beträgt die Unterdeckung jährlich knapp zehn Milliarden Euro – was immerhin etwa 0,5 Beitragssatzpunkten entspricht. Für die Pflege brachte sie in Erinnerung, dass der Bund den Pflegekassen aus der Zeit der Coronapandemie noch mehr als fünf Milliarden Euro schuldet, etwa für Tests oder den sogenannten Pflegeschutzschirm, der viele Einrichtungen vor der Schließung bewahrt habe. „Darüber müssen wir reden“, so die Ministerin forsch – wohl wissend, dass davon nichts mehr im Koalitionsvertrag steht.
Finanzminister Klingbeil ließ sich allerdings nicht lange bitten und kündigte schon kurz danach an, dass es vom Bund eine Zwischenfinanzierung geben werde. Man könne die Probleme jedoch nicht dauerhaft mit immer mehr Steuergeld kitten, warnte er und forderte „mutige und kreative“ Strukturreformen.
Wie hoch die Steuerzuschüsse ausfallen, wird erst bei den Haushaltsberatungen festgelegt. Klar ist aber schon jetzt: Ohne Sparmaßnahmen oder eine höhere Eigenbeteiligung der Versicherten wird es der Koalition nicht gelingen, die Beiträge längerfristig in den Griff zu bekommen.
