Die deutsche Mentalität ist gemeinhin nicht für übergroßen Revoluzzergeist oder aufrührerisches Gedankengut bekannt. Umso erstaunter bin ich in diesen Tagen, wenn ich in seriösen Medien und von langgedienten Politikern Floskeln wie „Aufstand“, „Aufruhr“, „Aufkündigung des gesellschaftlichen Konsenses“ oder gar „Demokratiegefährdung“ lese. Die von der Bundesregierung beschlossene Heizungsumstellung auf überwiegend erneuerbare Energien hat wie nur wenige Themen der letzten Zeit eine intensive und in weiten Teilen hochemotionale Debatte quer durch alle Parteigrenzen und Bevölkerungsschichten hervorgerufen.
Es scheint auf den ersten Blick – aber auch nur auf den ersten Blick – weit hergeholt, in der aktuellen Auseinandersetzung Analogien zur Situation in der Gesundheitspolitik zu entdecken. Dabei liegen die Gemeinsamkeiten auf der Hand: Hier wie dort ist die zugrundeliegende Situationsanalyse weitgehend unstrittig. In beiden Politikfeldern ist schon lange bekannt, dass dringender Handlungsbedarf besteht. Und dennoch ist in beiden Bereichen bis auf die Spahn’sche Digitaloffensive vor der Pandemie sowie ein bisschen Kosmetik und Symbolik in den letzten Jahren gleichsam NICHTS passiert. Das hat aber nicht dazu geführt, dass sich die Probleme in Luft aufgelöst hätten, wie es leider viel zu lange Mechanismus in der Politik war. Sondern natürlich dazu, dass die Herausforderungen immer größer, die Lösungen immer schwieriger werden und das Zeitfenster immer kleiner wird.
Entwicklung in der Energie- und Klimapolitik ist eine Warnung
Man mag je nach Lesart darüber streiten, ob die von der Ampel-Koalition beschlossenen Maßnahmen zum Heizungstausch und zur energetischen Sanierung von Gebäuden eine Politik mit der Brechstange sind oder endlich konkrete und verbindliche Maßnahmen zum Klimaschutz – wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte. Völlig klar ist hingegen, dass ähnlich durchgreifende Schritte vor 20, 10 oder auch noch vor 5 Jahren den angestrebten Effekt deutlich früher, signifikant preiswerter, mit einem längeren Zeithorizont für die Betroffenen und daher mit ungleich mehr gesellschaftlicher Akzeptanz erreicht hätten. Spätestens jetzt wird überdeutlich, wie sehr uns in der Gesundheitspolitik die aktuelle Entwicklung in der Energie- und Klimapolitik eine Warnung sein sollte. Wenn wir nicht endlich in der Lage sind, auf Grundlage einer weitgehend identischen Bestandsaufnahme die notwendigen Strukturmaßnahmen umzusetzen – Digitalisierung, zukunftsfeste Krankenhauslandschaft, bessere Verzahnung der Leistungserbringer – werden die mit großer Verbitterung geführten Diskussionen in der Klimapolitik auch zum Standard in der Gesundheitspolitik: Ein fairer und vernünftiger Konsens ist dann nahezu ausgeschlossen.
Reformen werden in der Frühphase zerredet
Ich bin ohnehin immer wieder erstaunt, wie wenig Relevanz die Gesundheit in der bundesdeutschen Politiklandschaft und der Öffentlichkeit besitzt. Das beginnt mit der fehlenden, aber dringend notwendigen Aus- und Bewusstseinsbildung in der Schule für achtsame Lebensführung und die eigene Gesundheitsverantwortung, es reicht über Fehlanreize in der Finanzierung von Gesundheitsdienstleistungen bis hin zur immer noch völlig unterschätzten Zeitbombe des demographischen Wandels, der die Gesundheitsversorgung so hart treffen wird wie keine anderes Sozialsystem. Die Funktionsfähigkeit und Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems werden in den nächsten Jahren ein sehr wichtiges, vielleicht sogar das überragende innen- und sozialpolitische Thema.
In meinen Gesprächen auch und gerade im politischen Umfeld hingegen spüre ich, dass die dunklen Wolken beständig ignoriert, zumindest aber in ihrer gesellschaftspolitischen Brisanz sträflich unterschätzt werden. Dabei sind die Warnsignale längst offensichtlich: Die Erfahrungen der Pandemie, obschon Katalysator für den teils anachronistischen Zustand der Gesundheitsversorgung, werden negiert oder verdrängt. Ernstzunehmende Anzeichen von Dysfunktionalität, ich denke an die massive Überlastung der Kinderärzte und -stationen zum Jahreswechsel sowie die schwierige Situation der Notfallversorgung, werden nicht als das gesehen, was sie tatsächlich sind: Alarmsignal und Aufruf zur Besserung. Und die von Bundesgesundheitsminister Lauterbach angekündigten Reformen? Sie werden schon in der Frühphase zerredet, torpediert und die Verfassungsmäßigkeit in Abrede gestellt, wie in den vergangenen Jahren diverse Male erlebt.
2023 muss Wendepunkt der Gesundheitspolitik werden
Währenddessen verrinnt die Zeit. Wenn 2023, zur Hälfte der Legislaturperiode, nicht zum Wendepunkt der Gesundheitspolitik wird, wenn nicht die notwendigen Strukturreformen und die Digitalisierungsoffensive endlich angegangen werden, werden wir irgendwann auf die Überreste eines einstmals funktionierenden Systems zurückblicken – wie bei der Bahn, der Bundeswehr, der Verkehrsinfrastruktur. Die Verwerfungen und tiefgreifenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen wie in der Klimapolitik sollten uns daher für das Thema Gesundheit, welches die Menschen sogar noch unmittelbarer betrifft, eine Warnung sein. Es ist – wie am Flughafen – der letzte Aufruf für konstruktive Lösungen.