Ethik-Kommentar

Die Lebensqualität einbeziehen

  • Ethik
  • Titel
  • 26.11.2019

f&w

Ausgabe 12/2019

Seite 1082

Dirk Lanzerath

Allein ein zusätzlich gewonnenes Lebensjahr kann die Frage nach der Kosteneffizienz der teuren neuen Gentherapien nicht vollständig beantworten. Vielmehr wird es darum gehen, ob das Überleben nicht auch mit einer neuen Form von Leid einhergeht. Dies kann erst nach längerer Beobachtung beurteilt werden. Zudem ist es wichtig, Nutzen und Kosteneffizienz der Präparate öffentlich zu diskutieren.

Angemessene medizinische Behandlung betrachten wir als ein individuelles Grundrecht. Der Staat ist verpflichtet, ein funktionierendes Gesundheitssystem einzurichten und für seine Erhaltung zu sorgen. Doch bei den konkreten Leistungsansprüchen der Bürger gibt es hier durchaus Gestaltungsspielraum. Nicht erst heute stellen sich daher die Fragen, welche Therapie- und Diagnoseformen sich ein Gesundheitssystem leisten kann, wo es priorisieren muss oder auch Leistungsansprüche nicht erfüllen kann.

Als gewichtiges Kriterium hierfür gilt das Verhältnis der eingesetzten finanziellen Mittel zum erwartbaren gesundheitlichen Nutzen für den Patienten. Die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO) hat in ihrer Stellungnahme bereits 2007 darauf hingewiesen, dass das Kriterium der Kosteneffektivität dazu beitragen soll, „dass mit den begrenzt verfügbaren Ressourcen ein möglichst großer gesundheitlicher Effekt, gemessen am Zugewinn an Lebenszeit und Lebensqualität, erzielt wird. Wenn Maßnahmen mit einem sehr ungünstigen Kosten-Nutzen-Profil unterbleiben, können die frei werdenden Ressourcen anderen Patienten mit einem größeren zu erwartenden Nutzen zugutekommen. Die Berücksichtigung der Kosteneffektivität medizinischer Maßnahmen kann damit indirekt auch die Verteilungsgerechtigkeit erhöhen.“ Dieser Grundsatz kann sicherlich sehr breit angewendet werden, wird aber nun in besonderer Weise herausgefordert. Denn inzwischen sind gentherapeutisch wirksame Medikamente entwickelt und für eine enge Indikation zugelassen worden, die sich für eine oft kleine Personengruppe in Studien als hocheffektiv erwiesen haben, sich aber gleichzeitig als enorm kostspielig darstellen. Novartis hat etwa in den USA als erster Pharmakonzern die Grenze von einer Million Dollar für eine medikamentöse Therapie überschritten. Für eine Therapie mit Zolgensma zur Behandlung der erblichen Spinalen Muskelatrophie (SMA) werden 2,1 Millionen Dollar berechnet. Diese Medikamententypen stellen mutmaßlich einen erheblichen Innovationsschub dar, werden aber das Gesundheitssystem in einer neuen Form belasten. Zudem kommt hinzu, dass diese Therapien zwar Erfolg versprechende Wirkungen gezeigt haben, jedoch in der Regel erst an wenigen Patienten erprobt worden sind, sodass sich ihre Wirksamkeit bei einer größeren Personengruppe erst noch erweisen muss.

Vertrauensverlust wegen manipulierter Daten

Es spricht für das Präparat, dass es nur durch eine einzige Injektion verabreicht werden soll und dann genetisch lange wirkt. Die Betroffenen haben mit dieser Behandlung gute Chancen, bei einer guten Lebensqualität viele Jahre zu leben. Der Hersteller rechnet vor, dass das Medikament nur die Hälfte der Kosten verursacht, die für ein konkurrierendes Produkt veranschlagt werden müssen, bei dem eine Behandlung von zehn Jahren anfällt, da Letzteres immer wieder injiziert werden muss.

Das ganze Projekt hat jedoch erhebliches Vertrauen eingebüßt, weil nur wenige Wochen nach der Zulassung durch die FDA Novartis zugeben musste, dass das Unternehmen Daten bei den Tierversuchen manipuliert hat. Dieser Umstand war dem Unternehmen schon vor der Zulassung bekannt. Die Einzelheiten sind noch im Detail zu klären. Werden wissenschaftliche Daten manipuliert, dann verstößt das eklatant gegen die Grundregeln guter wissenschaftlicher Praxis, die für Industrieforschung genauso gelten wie für öffentliche Forschung.

Verfügbarkeit für jeden gewährleisten

Die Wirksamkeit der Therapeutika unterstellt, scheint für ein faires Angebot in einem ethisch gerechtfertigten Gesundheitssystem allein ein zusätzlich gewonnenes Lebensjahr die Frage nach der Kosteneffizienz nicht zu beantworten, sondern es wird darauf ankommen, mit welcher Lebensqualität ein solches gewonnenes Jahr einhergeht und ob das Überleben nicht auch mit einer neuen Form von Leid einhergeht. Dies kann erst nach längerer Beobachtung beurteilt werden.

Grundsätzlich muss ein Medikament in einem System nicht für alle Personen vorgehalten werden, aber für all diejenigen, bei denen eine therapeutische Wirksamkeit erwartbar ist, muss es verfügbar sein. Dies gilt zunächst im Rahmen eines bestimmten Gesundheitssystems. Im interkulturellen Vergleich lassen sich hier erhebliche Gerechtigkeitslücken erkennen. So hat dieses Problem zu Recht, etwa im Zusammenhang mit Medikamenten zur Behandlung von HIV-Infizierten in Afrika, zu großen Irritationen geführt. Es war keineswegs so, dass die Pharmaunternehmen von sich aus die Preise in angemessener Weise an die lokalen Bedingungen angepasst hätten. Bei der Kalkulation der Arzneimittelpreise stellt sich stets – und in diesen neuen Fällen von Gentherapeutika in besonderem Maße – die Frage, wie die Preise überhaupt zustande kommen. Zu oft gewinnt man den Eindruck, und das gilt für viele andere Branchen auch, dass Kosten und Lasten wie Forschung, Transportwege, Umweltbelastungen kollektiviert werden. Gewinne hingegen werden dem Unternehmen zugeordnet.

Transparenz als Zeichen sozialer Verantwortung

Es ist daher dringend mehr Preistransparenz zu fordern. Wenn man aus unternehmensethischer Perspektive nicht auf der Linie mit Milton Friedman liegt und als einzige soziale Verantwortung von Unternehmen deren Gewinnmaximierung betrachtet, sondern wenn man das ökonomische Handeln als Teil unseres guten Lebens betrachtet, dann gibt es eine intrinsische Verantwortung, die Folgen des unternehmerischen Handelns für die Gesellschaft genau auf ihre Gerechtfertigbarkeit hin zu reflektieren. Vor dem Hintergrund der manipulierten Daten bei Novartis darf man durchaus skeptisch sein, ob der Preisgestaltung des Unternehmens Vertrauen entgegengebracht werden kann.

Zwar gibt es aus ethischer Perspektive hinsichtlich der Verteilungsgerechtigkeit und der Schwellenwerte für tragbare Kosten kein Patentrezept, jedoch ist es dringend erforderlich, Nutzen und Kosteneffizienz von diesen neuen Präparaten öffentlich zu diskutieren. Ethisch wäre es auch nicht akzeptabel, diese aus dem allgemeinen Gesundheitssystem herauszunehmen und sie nur denjenigen zu überlassen, die sie sich möglicherweise leisten können. Weder die Entwicklung von Medikamenten noch ihr therapeutischer Einsatz dürfen einfach den Mechanismen der freien Märkte überlassen werden. Selbst Befürworter liberaler Wirtschaftssysteme werden über reine Marktmechanismen keine gerechten Zugangsweisen zu medizinischen Behandlungsformen erwarten können. Vielmehr ist hier der Staat gefordert; das gilt gerade auch für die Anreize zur Entwicklung von Orphan Drugs, also Medikamenten, die sich aufgrund des geringen Patientenklientels nie zu Blockbustern werden entwickeln können.

Neben der Öffentlichkeit sind insbesondere die verantwortlichen Akteure angesprochen, sich in die Diskussion einzubringen. Neben den Pharmaunternehmen sind dies etwa die Ärzteschaft, Patientenverbände, Kostenträger, Bundesoberbehörden und Gesundheitspolitiker. Es ist sicherlich klug, zunächst befristete mutige Entscheidungen zu treffen, die nach systemischen Erprobungsphasen erneut auf den Prüfstand kommen und mutig auch wieder revidiert werden können.

Wenn die Rücknahme einer Kostenerstattung aufgrund nicht erwiesener Wirkungsgrade von vornherein explizit im Raum steht, wird dies nicht nur den Druck erhöhen, von Beginn an ausschließlich mit validen Daten zu operieren, sondern auch ein Monitoring einzuführen, das nicht darauf ausgerichtet ist, den Markt zu vergrößern, sondern die therapeutische Effizienz zu validieren. Diese Entwicklung ist jedoch nur der Anfang für die neuen Gentherapien. Die dabei entstehenden Probleme der Priorisierung und Rationierung im Gesundheitswesen wird kein Algorithmus für uns lösen.

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