Healthcare

Mut zu mehr Eigenverantwortung im Gesundheitswesen

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  • 20.10.2025

f&w

Ausgabe 10/2025

Seite 892

Prof. Dr. Bertram Häussler

Eigenverantwortung dürfe nicht länger als Sparinstrument gelten, sondern müsse als Mitgestaltungsmöglichkeit sichtbarer werden. Gelingt dies, könnte aus einem politisch missbrauchten Schlagwort ein Grundpfeiler für ein zukunftsfestes Gesundheitswesen werden.

Eigenverantwortung wird in Deutschland nicht als grundlegendes gesellschaftliches Fundament verstanden, sondern eher als Maßnahme zur Reduktion von Sozialausgaben. Je angespannter die Lage der öffentlichen Haushalte, desto stärker der Ruf nach mehr Ver-antwortung der Versicherten – meist in Form von Zuzahlungen oder Leistungsausschlüssen. In konjunkturellen Erholungsphasen dagegen gelten Entlastungen als Zeichen sozialer Wohltat und werden gezielt zur Schaffung von Loyalität des Wahlvolkes – in der politischen Ökonomie als „Massenloyalität“ bekannt – eingesetzt.

Eigenverantwortung je nach Kassenlage

Nach der Agenda 2010, die Zuzahlungen und Wahlmodelle einführte, hat in der Folgezeit die Regierung Merkel vieles davon wieder abgeschafft oder durch andere Regulierungen blockiert. Die Aufhebung der Praxisgebühr im Jahr 2012 war ein entscheidender Schritt. Sie wurde nicht aus grundsätzlichen Erwägungen heraus getroffen, sondern diente eindeutig der Stimmungsaufhellung im Wahljahr. Die FDP, die Eigenverantwortung stets programmatisch betonte, brachte diese Entscheidung im Gesundheitsministerium voran.

Dabei steht hinter dem Begriff eine tiefgreifende normative Idee: dass der Einzelne nicht nur Empfänger von Leistungen ist, sondern auch Mitgestalter seines eigenen Gesundheitsverlaufs und der gesellschaftlichen Ressourcenverwendung. Der allererste Paragraf des Fünften Buch des Sozialgesetzbuches lautet denn auch „Solidarität und Eigenverantwortung“.

In der Hochphase der Agenda 2010 sollte das Gesundheitswesen durch neue Strukturen tragfähiger werden. Neben Kostendämpfung standen Wahlfreiheit, Selektivverträge und Managed Care im Zentrum. Ziel war, den Versicherten echte Entscheidungsoptionen zu geben: für einen festen Versorger, einen definierten Behandlungspfad, mit Vorteilen bei Koordination und Qualität. Diese Versuche scheiterten jedoch an massiven Widerständen.

Hinzu kam ein Mangel an begleitender Kommunikation. Eigenverantwortung wurde oft als Zumutung empfunden, nicht als Befähigung. Die Idee, dass Patienten durch Wahl und Bindung zu Co-Produzenten des Systems werden könnten, blieb theoretisch. So wurde aus einem ambitionierten Systemumbau eine Reihe halbherziger Einzelmaßnahmen.

Dennoch war die Agenda 2010 der Versuch, Eigenverantwortung als Systemelement gerade auch im Gesundheitswesen zu etablieren. Die Einführung von Wahltarifen, die Beteiligung an Selektivverträgen, die Definition individueller Versorgungsmodelle – all das zielte auf ein Gesundheitssystem mit größerer Nähe zu patientenzentrierten und steuerbaren Strukturen. Die politische Brisanz dieser Reformen zeigte sich nicht zuletzt im Vertrauensverlust innerhalb der damaligen Regierungskoalition.

Bedeutungslos im Wahlkampf 2025

Trotz wirtschaftlicher Stagnation, wachsender Defizite und steigender Beitragssätze spielte das Thema Eigenverantwortung im Bundestagswahlkampf 2025 kaum eine Rolle. Eine Auswertung der Wahlprogramme zeigt: Nur FDP und CDU/CSU nennen den Begriff überhaupt. SPD und BSW meiden ihn völlig. Auch Grüne und AfD verwenden ihn nur abstrakt, nicht mit Bezug auf das Gesundheitswesen.

Es stellt sich die Frage, warum das Thema politisch entwertet wurde. Ein möglicher Grund liegt in der asymmetrischen Kommunikationslage: Eigenverantwortung verlangt Erklärung, Differenzierung, Argumentation – wohingegen andere Themen sich einfacher emotionalisieren lassen. In Zeiten digitaler Verkürzung und politischer Polarisierung gerät ein solches Konzept ins Hintertreffen.

Darüber hinaus ist Eigenverantwortung schwierig mit dem Versprechen universeller, möglichst lückenloser Versorgung zu vermitteln. Der politische Mainstream neigt dazu, Eigenverantwortung als Einschränkung wahrzunehmen – nicht als Gestaltungsmöglichkeit. Damit gerät das Konzept automatisch in den Verdacht, unsozial zu sein.

Das IGES-Institut hat gemeinsam mit der Rand Corporation und der Bertelsmann Stiftung im Jahr 2004 und mit Janssen-Cilag im Jahr 2009 zwei umfangreiche Studien zur Eigenverantwortung durchgeführt. Drei zentrale Befunde lassen sich daraus ableiten.

Erstens: Eigenverantwortung reduziert sich nicht auf finanzielle Beteiligung. Sie setzt voraus, dass Versicherte zwischen echten Versorgungsalternativen wählen können – sei es zwischen Tarifen, Versorgungsmodellen oder Anbietern. Wahlfreiheit, verstanden als Entscheidungskompetenz, ist Voraussetzung für Verantwortung.

Zweitens: Weder finanzielle Risikobeteiligung noch Wahlfreiheit werden akzeptiert, wenn sie als Bedrohung des bisherigen Leistungsumfangs empfunden werden. Es braucht Sicherheits- versprechen und verlässliche Mindeststandards, damit Wahl als Chance verstanden wird. Nur dann wird Wahlverantwortung als zumutbare, ja als erwünschte Herausforderung akzeptiert.

Drittens: Die Ärzteschaft lehnt wahlbasierte Versorgungsmodelle weitgehend ab. Sie fürchtet eine zunehmende Vertragsmacht der Krankenkassen und die Erosion freier Berufsausübung. Ohne den Schulterschluss mit der Ärzteschaft bleibt jeder Systemumbau ein Torso. Das gilt besonders für Konzepte wie Managed Care, die auf vertraglicher Bindung und Verantwortung beruhen. Diese drei Erkenntnisse zeigen: Eigenverantwortung muss eingebettet sein in faire, transparente und partizipative Rahmenbedingungen. Sie darf nicht als Last erscheinen, sondern muss als Kompetenzgewinn erfahrbar sein. Nur so kann ein nachhaltiger Beitrag zu Qualität und Effizienz im System geleistet werden.

Zufriedenheit und Kompetenz sind rückläufig

Allerdings haben sich seit der Studie die Bedingungen erheblich gewandelt: Da ist vor allem eine rückläufige Gesundheitskompetenz: Immer mehr Menschen haben Schwierigkeiten, sich im System zurechtzufinden. Der viel gepriesene freie Zugang zu allen Ressourcen des Gesundheitswesens wird für eine Mehrheit zunehmend zur leeren Versprechung.

Die Zufriedenheit mit dem deutschen Gesundheitswesen ist seit Jahren rückläufig: Wartezeiten, fehlende Facharzttermine und begrenzter Zugang werden immer mehr zur subjektiven Erfahrung. Patienten werden nicht über-, sondern zunehmend fehl- und unterversorgt.

Steigende individuelle Kassenbeiträge machen die Ausgaben für Krankenversicherung zunehmend zu einer finanziellen Bürde. Und Ärzte verabschieden sich von der Freiberuflichkeit. Immer mehr Mediziner arbeiten angestellt statt freiberuflich.

Diese Entwicklungen machen integrierte Versorgungsmodelle tendenziell realisierbarer als früher. Vertragspartner mit Versorgungsverantwortung – etwa nach Vorbild von Health Maintenance Organizations (HMO) – könnten aus der Utopie in die Welt des Denkbaren wechseln. Damit verbunden ist auch eine neue Möglichkeit für Patienten: die Entscheidung für eine Versorgungsform, die den individuellen Möglichkeiten angepasst wird.

Renaissance von Managed Care?

In dieser veränderten Landschaft könnte Managed Care eine Renaissance erleben. Unter bestimmten Bedingungen: Dazu gehören Bindefristen bei Wahltarifen, weil Anbietern sonst Planungssicherheit fehlt. Versicherte müssten sich für einen Zeitraum zu einem Modell bekennen – und im Gegenzug profitieren. Nur so entsteht Vertrauen und Commitment.

Zudem müssten investitionsstarke Anbieter zugelassen werden: Nur so entstehen integrierte Versorgungsnetzwerke mit echter Verantwortung und Innovationsfähigkeit, insbesondere im Hinblick auf digitale Prozesse. Die regulatorischen Bedingungen müssen dem Rechnung tragen.

Und zuletzt sind Wahlmöglichkeiten für Versicherte erforderlich: Die Entscheidung für ein Modell muss bewusst und vertraglich abgesichert sein. Es braucht Information, Transparenz und digitale Vergleichbarkeit. Eigenverantwortung braucht Entscheidungshilfe. Damit entstünde ein System, in dem Eigenverantwortung weniger über Zuzahlungen, sondern eher über Wahlentscheidungen organisiert ist. Wer sich einem Versorgungssystem anschließt, übernimmt Verantwortung und kann dafür im Gegenzug Hilfestellungen erfahren, die im Ergebnis zu einem befriedigenderen Erlebnis führen.

Natürlich ist das alles nicht so einfach: Der Situation vulnerabler Gruppen müsste ein besonderes Augenmerk zuteil werden, das Vertrauen von Investoren müsste gesichert werden. Und vor allem müssten die beiden Koalitionsparteien der Union und der SPD in diesen Fragen zusammenfinden, von denen Letztere bei diesem Thema nicht ganz unbelastet ist.

Gleichzeitig würde ein solcher Umbau die Rolle der Kassen tangieren: Behalten sie die uneingeschränkte Regie beim Abschluss von Versorgungsverträgen oder könnten die Managed-Care-Leistungsanbieter eine stärkere Rolle spielen?

Eigenverantwortung als Gestaltungsprinzip

Das Gesundheitswesen von morgen braucht beides: kollektive Absicherung und individuelle Wahlmöglichkeiten. Eigenverantwortung darf nicht länger als Sparinstrument gelten, sondern muss als Mitgestaltungsmöglichkeit sichtbarer werden.

Es ist allerdings gut möglich, dass die aktuelle politische Situation einer so anspruchsvollen Reform derzeit keinen Raum bietet. Dann aber wäre die Regierung gut beraten, das Thema „Eigenverantwortung“ nicht als Sparmaßnahme zu verschleißen. Zu groß ist die Gefahr, dass die Versicherten und Bürger noch mehr Vertrauen in das Gesundheitswesen verlieren, das in seiner Wichtigkeit für die grundlegende Zustimmung zu dieser Gesellschaft nicht unterschätzt werden darf.

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